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Plapperbu:de

Mastodon? Fediverse?! ActivityPub??!

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Mitwirkende

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Homer S. (er)

Shownotes

Eine Orientierungshilfe im dezentralen Networking

Prolog

Hallo! Du bist vermutlich einer der vielen Menschen, die von diesem sozialen Netzwerk Mastodon gehört haben, mal reinschauen wollten und sich von all dem etwas erschlagen fühlen, richtig? Oder Du hast einen schon etwas älteren Account reaktiviert, nachdem Elon Musk Twitter gekauft hat und Du Dich in deinem alten Netzwerk nicht mehr recht zuhause fühlst. Das Fediverse und insbesondere Mastodon haben im Zuge dieser Entwicklung plötzlich ungewohnt große Aufmerksamkeit empfangen. Selbst bei der Tagesschau, im Spiegel und anderen großen Presseerzeugnissen hat das zu Artikeln oder Fernsehbeiträgen geführt, die es als Twitter-Alternative vorgestellt haben. Moment mal! Fediverse? Was soll das denn sein? Du wolltest doch eine Orientierungshilfe für Mastodon hören! Du hast dort schon mal reingesehen, aber dann wurde da irgendwas von Instanzen geredet, die man sich als erstes aussuchen müsse. Und dass das dort eben nicht wie Twitter sei, also eigentlich schon ein bisschen, aber dann doch ganz anders. Und dann hast Du gemerkt wie Dir der Kopf schwirrte und dann war die Startseite ganz leer und Du wusstest gar nicht, wo Du denn die ganzen Inhalte findest. Und dann hast Du welche gefunden, aber da haben sich Leute gestritten was man wo und wie schreiben oder nicht schreiben soll, dass Likes hier nichts bringen und du sollst alles boosten und … Was ist eigentlich boosten?! ….

Alles ein bisschen viel, nicht wahr? Der ganze Aufriss für so ein komisches neues Netzwerk, in dem getrötet wird, von dem Du nicht mal weißt, ob Du’s wirklich willst. Ja, die Schwelle ist nicht ganz niedrig. Aber vielleicht kann ich Dir ein wenig dabei helfen sie zu überwinden ….

Von Anfang an

Um es vorweg zu nehmen: Mastodon ist ein Teil des Fediverse. Das Fediverse wiederum ist ein dezentrales soziales Netzwerk, in dem Menschen Accounts auf unterschiedlichen Servern und das heißt ganz unterschiedlichen Webadressen haben, und dennoch miteinander Nachrichten austauschen können. Wirklich neu sind weder das Fediverse noch Mastodon. Ich persönlich bin der Idee dezentral organisierter Nachrichts-Verteilung so um 2008 zum ersten Mal begegnet. Damals wurde die freie Software GNUSocial unter dem OStatus-Standard entwickelt, der klärte, wie Nachrichten zwischen Servern ausgetauscht werden sollten. Für die Allgemeinheit zugänglich wurde GNUSocial zunächst über die Platform identi.ca, etwas später als Status.net und mit der näher an dem damaligen Twitter angelehnten Benutzungsoberfläche Quitter. Die in der Programmiersprache php umgesetzte Software Friendica war und ist besonders einfach auf gängigen WebHosting-Angeboten zu betreiben und trug so sicher maßgeblich zu einer stärkeren Verbreitung des Standards bei.

ActivityPub

Der OStatus-Standard wurde über die Jahre in ActivityPump umbenannt und schließlich 2018 als offiziell vorgeschlagener Webstandard ActivityPub veröffentlicht. Services, die miteinander nach dem ActivityPub-Standard Informationen austauschen, bilden miteinander das Fediverse.

Das Fediverse

Man könnte also sagen, dass die Services, die sich im Fediverse miteinander verbinden, dies durch eine gemeinsame Sprache tun. Dabei sprechen die Services manchmal so etwas wie Dialekte der gemeinsamen Sprache, sie unterscheiden sich also leicht voneinander, teilen aber die grundsätzliche Grammatik. Diese Services oder Dienste sind im Grunde nichts anderes als Software, Anwendungen, Apps, die auf Web-Servern laufen, Daten ausliefern und ggf. eine unter einer Web-Adresse erreichbare Oberfläche zur Verwendung des Netzwerks anbieten. Der Austausch zwischen den sogenannten Instanzen also Servern wird als Föderation bzw. Federation bezeichnet. Daher auch das Kofferwort Fediverse. Einer dieser Services ist Mastodon.

Exkurs: Diaspora und die Federation

Neben dem Fediverse existiert seit 2010 auch die Federation als eigenes Netzwerk. Damals begann das Projekt Diaspora als weitere Idee eines dezentralen Netzwerks. Ursprünglich als Peer-2-Peer-Netzwerk gedacht, in dem also alle Nutzer*innen selbst Server sind, blieb die Installation der Server-Software zu kompliziert für dieses Ziel. Diaspora verwendet nicht den ActivityPub-Standard und kann deshalb nicht mit dem Fediverse kommunizieren. Heute verzeichnet die Statistikseite podupti.me 121 Diaspora-Server. Im Vergleich zu 10.000 dort dokumentierten Servern, auf denen Mastodon betrieben wird.

State of the Fediverse

Wie gesagt. Mastodon ist nur ein Serverdienst, der innerhalb des Fediverse mit anderen Servern kommuniziert. Jetzt, im Jahr 2022 mit Abstand der größte. Was aber der Nützlichkeit und Bedeutung für die Zukunft seiner Geschwister nicht widerspricht. Ich werde im Folgenden einige der bekanntesten Dienste vorstellen, um einen Eindruck von der Anwendungsbreite zu vermitteln.

Mastodon

Mastodon ist eine Software, die Accounts erlaubt, Statusmeldungen bzw. Microblog-Beiträge bis zu einer Länge von 500 Zeichen mit dem Fediverse oder Teilen davon auszutauschen. Diesen Beiträgen können bestimmte Datei-Formate wie Bilder, Videos oder Audio-Dateien angehängt werden. Sie können außerdem mit verschiedenen Eigenschaften ausgezeichnet werden. Welche Sprache im Beitrag (Toot, Tröt, Post) verwendet wird. Eine Inhaltswarnung kann hinzugefügt werden. Und es kann entschieden werden, ob der Post öffentlich, ungelistet, nur folgenden Accounts oder als Direktnachricht an einzelne erwähnte Accounts versendet werden soll. Die Web-Oberfläche und zahlreiche Apps helfen den Nutzer*innen bei der visuellen Organisation der Daten. Übertragen werden sie allerdings i.d.R. im strukturierten Text-Format JSON. Davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man an die Webadresse eines beliebigen Toots einfach ein „.json“ anhängt und im Browser aufruft. So lässt sich die verschachtelte Struktur des Datenobjekts nachvollziehen – wenn es 1 interessiert.

Neben dem unter dem Markennamen Twitter populär gewordenen Microblogging wurden im Fediverse aber noch andere beliebte Dienste des Internets dezentralisiert umgesetzt.

Pixelfed

… ist der mittlerweile recht fortgeschrittene Versuch, eine nicht-kommerzielle Alternative zur Meta-Tochter Instagram herzustellen. Neben der WebOberfläche stehen mittlerweile eine iOS-App und bald sogar schon zwei brauchbare Android-Apps zur Verfügung.

PeerTube

… lässt schon am Namen erkennen, dass es sich anschickt, YouTube dezentral zu ersetzen. Hier liefert nicht nur der Server das Video aus, auch die Zuschauenden verteilen während des Ansehens Teile des Videos untereinander und nehmen so Last vom Server.

Owncast

… ist ein Serverdienst der verteiltes Live-Streaming ermöglicht.

Friendica

… versucht Microblogging um weitere Funktionen wie Gruppen zu ergänzen und sich so dem Funktionsumfang eines Facebook anzunähern. Da es außer dem ActivityPub-Standard noch eine Reihe weiterer Übertragungs-Methoden unterstützt, können seine Nutzer*innen auch mit Accounts außerhalb des Fediverse kommunizieren, z.B. mit Teilnehmenden des vorhin erwähnten Diaspora. Entsprechend hat diese Software eine hohe Komplexität entwickelt. Der Versuch zwischen unterschiedlichen Netzwerken und ihren Spezifika Informationen konsistent zu übermitteln und sich an Veränderungen in deren Schnittstellen anzupassen, ist sicher sowohl eine Herausforderung für seine Entwickler*innen als auch für die Nutzer*innen in der Anwendung.

WriteFreely, WordPress-ActivityPub-Plugin

… erlauben das Publishing von Texten bzw. Blog-Beiträge im Fediverse zu verteilen. Während WriteFreely spezifisch für das Verteilen im Fediverse entwickelt wurde, muss das bekannte WordPress-Blog eigens mittels des ActivityPub-Plugins dafür erweitert und eingerichtet werden.

Funkwhale

… hat sich dem Audio-Streaming verschrieben und hilft damit die Abhängigkeit von kommerziellen Diensten wie Spotify überwinden. Audio-Dateien können unter Achtung der jeweiligen Rechte und Lizenzen mit anderen Funkwhale-Nutzer*innen geteilt werden. Es können auch eigene Kanäle zur Veröffentlichung von Musik unter freien Lizenzen sowie Radio-Streams eingerichtet werden. Auch die Veröffentlichung und das Abonnement von Podcasts wird von Funkwhale unterstützt. Allerdings ist diese Unterstützung noch in einem recht frühen Stadium und bietet viele Feature und Funktionen nicht, die Podcast-Produzent*innen und -Liebhaber*innen von anderer Software gewöhnt sind.

Castopod

Im Kontrast zu Funkwhale ist Castopods einziger Zweck das Publishing von Podcasts sowie diese im Fediverse zu verbreiten und diskutieren. Es kombiniert alle bisherigen Vorzüge von Podcasts mit den Vorzügen dezentraler Kommunikation.

mobilizon

… ist ein föderierter Veranstaltungskalender. In diesem Bereich war Facebook bisher der de facto-Standard, der die Abhängigkeit zu Zuckerbergs Imperium für Viele aufrecht erhalten hat. Mit mobilizon können Accounts Veranstaltungen einstellen und verwalten sowie Organisations-Seiten für Gruppen und ihre Mitglieder anlegen. Allerdings lässt sich der mobilizon-Webseite mit ihrer Instanz-Auflistung entnehmen, dass die Software noch keine so große Verbreitung genießt.

Vor allem beim Microblogging gibt es mittlerweile mehrere alternative Server-Anwendungen. Genießt Mastodon auch mit seinen bald 8 Millionen Accounts mit Abstand die größte Verbreitung, verwenden manche Instanzen andere Umsetzungen wie Pleroma, Misskey oder das noch in früher Entwicklung befindliche gotosocial.

Die Vorzüge des Kuddelmuddels

So viele Namen. So viele verschiedene Funktionen. Wer soll da noch durchblicken? Und wer will so viele verschieden Dienste nutzen, nur um mal 1 Blog zu folgen oder sich die Fotos von jemandem anzusehen? Naja, auch außerhalb des Fediverses braucht jede dieser Anwendungen eine eigene Anmeldung. Außerdem: Es ist durchaus möglich mit z.B. 1 Mastodon-Account auch einem Account auf Pixelfed, PeerTube, Castopod oder WriteFreely zu folgen. Wie oben bereits erwähnt: Manche der Dienste mögen 1 leichten Dialekt sprechen und deshalb vielleicht nicht jedes Feature, jede Funktion ihres Gegenübers verstehen oder darstellen können. Aber so lange er über die Haupteigenschaften des ActivityPub-Protokolls verfügt, ist er grundsätzlich zur Kommunikation in der Lage. Welche Funktionen unterstützt werden, entscheiden die Entwickler*innen der jeweiligen Software bzw. wieviel Zeit sie für deren Unterstützung aufwenden können. Schließlich handelt es bei allen vorgestellten Anwendungen um Freie Software, Projekte von Freiwilligen. Die Ressourcen sind begrenzt und das Engagement teilt sich auf die verschiedenen Projekte auf. Deshalb kommen einzelne Projekte wie Plume, eine andere föderierende Blogging-Software, auch mal zum Erliegen oder erreichen vielleicht niemals die nötige Einsatzreife. Andererseits hält gerade die Vielfalt und die Freiheit für Kreativität das Fediverse lebendig und resistent.

Instanzen – Die Suche nach dem richtigen Zuhause

Anders als bei den zentralisierten Diensten wie Twitter, Facebook, Instagram, TikTok, YouTube usw., bei denen sich alle Nutzer*innen auf derselben Webseite registrieren und anmelden und eine Firma mit ihrer Hierarchie über die Bedigungen des Angebots entscheidet. Anders als dort setzt sich das Fediverse aus Tausenden von Instanzen zusammen. Jede unter einer anderen Domain, also Webadresse, mit unterschiedlichen Administrator*innen, unterschiedlicher Software, Anwendungen, manchmal unterschiedlichem Look & Feel der Benutzungsoberflächen. Und sogar Themenschwerpunkte, Communities und geltende Regeln können sich zwischen den Instanzen erheblich unterscheiden. Natürlich erhöht so viel Varianz die Komplexität des Gesamt-Systems. Und damit auch die Zugänglichkeitsschwelle für alle, die mehr oder weniger neu in diese Welt eintreten. Zentralisierte Dienste haben den Vorteil, diese hohe Zugänglichkeit für die meisten zu bieten. Die starke Ausdifferenzierung der Dezentralisierung wiederum bietet die Chance einer hohen bedürfnisspezifischen Passung der jeweiligen Community, der 1 sich anschließen möchte. Je größer eine Instanz desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sehr heterogene Personenkreise sich auf ihr versammelt haben. Das macht den Zugang einfach aber auch potenziell beliebig, birgt sichtbaren oder unsichtbaren Konfliktstoff. Eine höhere Zahl kleinerer Instanzen ermöglicht eine höhere Passung der Bedürfnisse und Grenzen ihrer Mitglieder.

Zerrbild der analogen Welt

Wir kennen dieses Phänomen genauso aus der anlogen sozialen Welt: Trete ich z.B. einem örtlichen Breitensportverein bei, dann versammeln sich unter diesem Dach meist unterschiedlichste Menschen, deren größte Gemeinsamkeit vermutlich ist, dass sie gerne Sport betreiben möchten. Es ist möglich, dass die Interessen hinsichtlich Sportanlagen-Ausbau mitunter stark voneinander abweichen, weil die vertretenen Sportarten ggf. sehr unterschiedliche Anforderungen an Außensportanlagen, Sportgeräte, Hallen oder den Fahrzeugpark des Vereins stellen. Alle Mitglieder möchten ihre Interessen möglichst gut mit den geteilten Ressourcen wie Mitgliedsbeiträgen vertreten sehen. Abhängig von Gruppengrößen bilden sich im Verein auch unterschiedliche Machtverhältnisse ab, sodass die relativ kleine Rudersparte sich unter Umständen von der Mehrheit der Leichtathlet*innen übergangen oder ausgenutzt fühlt. In diesem Fall ist es durchaus möglich, dass sich die Sparte aus dem Verein ablöst, einen eigenen Verein gründet und von nun ab für sich selbst entscheidet. Durch diese Ablösung wird einerseits eine höhere Selbstbestimmung gewonnen, andererseits kann so zukünftig der Zugriff auf bestimmte Ressourcen des größeren Vereins bedroht sein. Die Untergruppe der Ruderer*innen muss zwischen diesen Konsequenzen abwägen und entscheiden, welche Lösung für sie langfristig das beste Ergebnis bringt.

Ein großer, heterogener Verein vereint in der Regel nicht nur unterschiedliche Sportarten sondern über alle Sparten hinweg auch Menschen, die sich hinsichtlich Privilegien, Einschränkungen, Bedürfnissen und Haltungen beträchtlich unterscheiden können. Die Ansichten hinsichtlich der Frage wie inklusiv oder exklusiv der Verein sich zu diesen Eigenschaften verhalten soll, werden zwischen den Mitgliedern abhängig von ihrer Verteilung mehr oder weniger stark variieren. Organisiert sich der Verein überwiegend nach einfachen Mehrheitsverhältnissen, werden die Interessen der privilegierteren Mitglieder oder Gruppen überproportional oder gar ausschließlich im Handeln des Vereins abgebildet. Gibt sich der Verein hingegen aus bestimmten Haltungen heraus Regeln, um auch die Interessen unterrepräsentierter oder unterprivilegierter Gruppen zu schützen, wird er mit diesen begrenzen, was per einfacher Mehrheitsentscheidung bestimmt werden kann, bzw. den zu schützenden Gruppen gewisse Mindeststandards garantieren.

Die Sache mit den Serverregeln

Zurückübertragen auf Instanzen im Fediverse bedeutet das, dass diese mit Serverregeln den Rahmen erwünschten und unerwünschten Verhaltens der Account-Inhaber*innen auf der Instanz vorab oder begleitend definieren. Instanzen können z.B. zur besseren Einbindung von Menschen mit Sehbehinderung von ihren Mitgliedern erwarten, dass diese hochgeladene Fotos und Bilder stets mit Bildbeschreibungen versehen. Sie können diskriminierende Sprache, Mobbing und/oder andere feindselige Handlungen ausschließen und mit Zeitstrafen oder Ausschlüssen von der Instanz ahnden. Mit jeder gesetzten Regel oder Norm trifft die Instanz Entscheidungen darüber, welche Personen sie einlädt, Willkommen heißt oder abweist.

Dies gilt natürlich auch für die zentralisierten Dienste des Internets wie Twitter. Dort gelten die zentral festgelegten Regeln für alle Mitglieder des Netzwerks – es sei denn politische Akteure wie die EU oder die chinesische Regierung konnten ausreichenden Druck auf den betreibenden Konzern ausüben, um ihn zu zwingen, sich an das dort geltende Recht anzupassen. Einzelne Teilnehmer*innen oder Communities hatten allerdings kaum bis keine Möglichkeit, die Gestaltung des Dienstes zu beeinflussen oder Regeln gegen die Wünsche des Konzerns durchzusetzen. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Profitinteressen eines börsennotierten Unternehmens den Schutz marginalisierter Gruppen oder das langfristige Wohl seiner Teilnehmer*innen besonders begünstigen.

Demokratisierung durch Dezentralität?

Im Fediverse sind Entscheidungen über die Ausgestaltung des Netzwerks, Zusammenschluss und Abgrenzung auf niedrigere Hierarchieebenen der globalen Machtverhältnisse verteilt. Dieser Umstand wird oft übervereinfachend als Demokratisierung idealisiert. Dabei wird – meist aus der unbewussten Position eigener Privilegiertheit – vergessen, dass Staaten, Organisationen von Staaten und Multinationale Konzerne nur 1 Ausgestaltung von Machtverhältnissen in der uns umgebenden Welt sind.

Auch wenn im Fediverse überwiegend Privatpersonen Entscheidungs- und Gestaltungsmacht verliehen wird – Nur wer Demokratie als Herrschaft der Mehrheit über Minderheiten denkt, kann die reine Dezentralisierung und damit die Verteilung von Macht auf mehr Privilegierte als gelungene Demokratisierung feiern. Nur wer Gleichberechtigung statt Gleichstellung als ethischen Zielzustand definiert, wird übersehen, dass auch im dezentralen Netzwerk die bereits analog bestehenden Ungleichheiten zwischen gesellschaftlichen Gruppen ohne weitere Bemühungen lediglich reproduziert werden. Menschen, die wegen spezifischer Eigenschaften in der analogen Welt weniger ernst genommen werden, werden auch online weniger ernst genommen, wenn sie diese Eigenschaften zu erkennen geben. Menschen, die wegen dieser Eigenschaften systematisch weniger Ressourcen und Privilegien mitgegeben bekommen oder bei deren Aneignung eingeschränkt sind oder behindert werden, haben geringere oder sogar keine Chance, auf die Gestaltung des Netzwerks Einfluss zu nehmen. Sei es durch Lautstärke, investierte Zeit und Kraft, machtvolle Netzwerke, finanzielle Mittel oder technische Kompetenzen. Das Problem ungleichverteilter Repräsentation löst sich also im digitalen Raum nicht auf – selbst wenn alle Teilnehmenden anonym blieben und keine Informationen über sich zur Verfügung stellten. Tatsächliche Demokratisierung setzt also Maßnahmen voraus, die die Gleichstellung der Teilhabenden herstellen oder zumindest fördern. Im sogenannten Real Life – aber genauso auch im Fediverse.

Ringen um Kultur, Konventionen und Regeln

Selbst diese Definition von Demokratisierung bzw. deren Festlegung als höherer Wert in der Ausgestaltung des Zusammenlebens im Fediverse ist natürlich bereits eine weltanschauliche Setzung. Sie wird nicht von allen im Fediverse aktiven Personen geteilt. Von manchen Personenkreisen würde sie aktiv abgelehnt, von anderen wiederum opportunistisch verzerrt werden. Manche Menschen lehnen auch eine aktive Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Gestaltung sozialen Zusammenlebens ab, solange sie sich selbst nicht von Einschränkungen betroffen fühlen. Wie gesagt – es ist wie draußen in der analogen Welt. Menschen deren Überzeugungen zu grundsätzlich gegeneinander stehen, können nicht friedlich koexistieren. Sie haben die Wahl miteinander fortwährend zu kämpfen oder den Abstand zueinander zu vergrößern, um nicht immer wieder in Konflikt zu geraten. Daher ist es im von mir wahrgenommenen Teil des Fediverse breit anerkannte Konvention, dass z.B. die Nazi-Instanz gab vollständig geblockt wird. Und auch die von Donald Trump nach seinem Twitter-Rausschmiss propagierte Platform truth.social würde – so sie überhaupt in der allgemeinen Föderation teilnähme – von den meisten Instanzen nicht an die eigenen Nutzer*innen heran gelassen. Je nach dominanter ethischer Haltung setzen Instanzen ihre Kriterien für weitere Instanz-Blocks. Die konkreten Kriterien für Instanz- oder Account-Blocks sind vielfältig und in unterschiedlichem Ausmaß transparent. Und das Kontinuum reicht von sehr niedrigschwellig entföderierenden Instanzen über solche, die nur ausnahmsweise und auf massive Beschwerden hin bei eher offensichtlichen Hass-Posts reagieren, bis hin zu der Blase, die sich an einem Free-Speech-Konzept nach USA-typischer Auslegung orientiert und nahezu nichts blockiert.

Während bereits im Kontext von zentralen Netzwerken früh von sogenannten Filter-Blasen die Rede war, entwickelten sich diese dort vor allem durch die in der Regel geheimen Kriterien der von den Betreibenden zwischengeschalteten Filtern oder Algorithmen, sowie nebenher auch durch Verknüpfen mit anderen Netzwerk-Teilnehmenden z.B. mittels Folgen oder Freundschaftsanfragen., in geringerem Maße auch durch das Blocken von Accounts. Da im Fediverse bisher Inhalte in chronologischer Reihenfolge dargestellt und ihr Erscheinen nicht durch gewichtende Algorithmen beeinflusst werden, spielen hier individuelle sowie die Filterentscheidungen auf Instanzebene eine große Rolle. Auch hier werden Filterblasen geschaffen, die evtl. zu einer stärkeren Fragmentierung des Fediverse beitragen, als es beispielsweise bei Facebook oder Twitter der Fall gewesen wäre. Allerdings unterliegen diese Entscheidungen hier in stärkerem Maße der Kontrolle der Nutzer*innen. So können nicht nur Instanzen andere Instanzen blocken. Auch die Nutzer*innen können nicht nur einzelne Accounts sondern ganze Instanzen aus ihrer TimeLine also ihrem Stream neuer Posts der Accounts, denen sie folgen, ausschließen. Da es im gesamten Netzwerk aber bereits eine ganze Menge des Blockens Würdige gibt und das für jeden einzelnen Account eine ganze Menge Handarbeit bedeuten würde, ergibt es oft Sinn, nach einer Instanz Ausschau zu halten, deren Serverregeln und Block-Regelwerk von vornherein den eigenen Bedürfnissen und Haltungen möglichst gut entspricht. Daher listen Instanzen beides bzw. auch eine Liste aller bisher blockierten Instanzen auf ihrer Startseite auf.

Thematische Instanzen, Communities und Lokale TimeLines

Die Serverregeln regeln übrigens nicht nur den Umgang mit feindseligen Inhalten. Sie stellen zum Teil auch bestimmte Bedingungen für die Teilnahme an ihnen auf. So richten sich manche von ihnen thematisch aus, z.B. nach einer Berufsgruppe, einem bestimmten Hobby oder einem politischen Thema. Sie verbieten dann zwar nicht notwendigerweise mit dem Account auch an Interaktionen außerhalb des Themenbereiches teilzunehmen. Sie fordern aber z.B. dazu auf, Beiträge, die sich nicht mit dem ausgewählten Themenbereich dieser Instanz beschäftigen, nicht als öffentlich sondern als nicht gelistet oder Nur an Folgende zu posten. Denn dann tauchen diese Posts bzw. Tröts nicht in der sogenannten Lokalen Timeline auf. Diese enthalten nämlich ausschließlich die öffentlichen Beiträge der Instanzmitglieder und können so monothematisch gehalten werden. Weil sich so also bestimmte Communities auf einem Server zusammenfinden, legen sich manche Nutzer*innen eben auch dort eigene Accounts nur für die Teilnahme auf diesem Server an, verwenden also mehr als 1 Account im Fediverse für verschiedene Zwecke. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass die Instanz nur bestimmten Personen oder Organisationen die Registrierung erlaubt. Also z.B. dass nur Journalist*innen oder Lehrer*innen aufgenommen werden. Oder wie auf podcasts.social nur Podcasts.

Die Fragmentierung des Fediverse ist also durchaus ein erwünschtes Feature, kein Problem an sich. Auch im stofflichen Lebenn außerhalb des Internets machen aus guten Gründen nicht immer alle alles miteinander zusammen, sondern tuen sich Menschen nach verschiedenen Kriterien zusammen oder grenzen sich ab. Und diese Grenzen werden in einem gewissen Rahmen ständig neu untereinander verhandelt. Gruppen und Einheiten in Netzwerken bilden das im Grunde nur ab.

So kam es unter den größeren Wellen des Wechsels von Twitter-Nutzer*innen in Richtung Mastodon immer wieder auch zu Konflikten, weil die Untergruppen der über viele Jahre auf Twitter Sozialisierten einerseits und der seit längerem im Fediverse Aktiven andererseits sich in ihrem Netzwerk-Verhalten doch zunächst stark unterschieden und gegenseitige Erwartungen nahezu regelhaft beidseitig enttäuscht wurden. Über kurz oder lang wird diese polarisierende und verallgemeinernde Unterscheidung aber in den Hintergrund treten und werden die Grenzen wieder an anderen Merkmalen und Haltungen entlang verlaufen.

Leider verwählt! Die Umzugsoption

Nun fällt die Auswahl zwischen den Tausenden von Instanzen zu Beginn naturgemäß besonders schwer. 1 kennt sich nicht aus und nicht immer sagen 1 die Selbstinformationen über eine Instanz alles, was es über sie tatsächlich zu sagen gäbe. Im Zuge bestimmter Massenabwanderungen von Twitter können überdies viele der Instanzen so überlastet werden, dass sie ihre Registrierung neuer Accounts schließen müssen und so konzentriert sich das Wachstum auf einige größere Instanzen, die – wie vorhin beschrieben – zugunsten der Zugänglichkkeit für die Vielen ggf. auf klarere Abgrenzungen und Schutz von Verletzlicheren Personenkreisen verzichten. Entsprechend kann es passieren, dass sich 1 einen Account irgendwo eingerichtet hat und im Laufe der Zeit herausfindet, dass sich die Atmosphäre dort nicht so gut anfühlt oder dass 1 andere von ganz tollen Instanzen erzählen, deren Rahmenbedingugnen 1 einfach besser gefallen würden. Die wenigsten, die schon mehrere Jahre im Fediverse aktiv sind, sind hier noch nie mit einem Account umgezogen. Einerseits, weil das Fediverse über die Jahre hinweg gewchsen ist und sich immer weiter ausdifferenziert hat. Andererseits, weil der Bedarf eben auch zu technischen Hilfen beim Umzug geführt hat. Zumindest was den Umzug zwischen verschiedenen Mastodon-Instanzen angeht. Denn beim Umzug von 1 Konto auf 1 anderes verlieren wir ja schnell auch unser aufgebautes Netzwerk. Die Accounts, denen wir folgen und die uns folgen, von Hand wieder zusammenzusuchen kann ab einer gewissen Menge ziemlich lästig sein und auch lückenhaft bleiben. Im Mastodon-Menü findet sich daher ein Menüpunkt Import/Export. Hier lassen sich bestimmte Daten exportieren und in den neuen Account wieder importieren. Außerdem kann eine Art Nachsendeauftrag aktiviert werden, sodass Folgende und Nachrichten automatisch an den Account auf dem neuen Zuhause weitergeleitet werden. Super praktisch! Kleiner Wehrmutstropfen: Leider können bisher die Posts zwar in einem Gesamtarchiv gesichert, aber nicht auf der neuen Instanz reimportiert werden. Das heißt, die alten Ergüsse verschwinden wohl oder übel mit dem Umzug. Aber jemand erinnerte mich kürzlich, dass wir ehrlichweise ohnehin nur selten in unsere alten Aufzeichnungen zurückkehren und mitunter die Bedeutung unserer Posts über die Zeit hinweg vielleicht leicht überbewerten. … Das ist wohl so …

Der Trend zum Zweit-Account

Neben den benannten Gründen, mehr als einen Account im Fediverse zu betreiben – also verschiedene Dienste zu nutzen oder sich thematischen Communities anzuschließen – gibt es mindestens einen weiteren. Während zentrale Netzwerke schon mal komplett ausfallen oder regional gesperrt werden können, ist ein Totalausfall im dezentralen Fediverse eher unwahrscheinlich. Verkonfiguriert sich 1 Admin mal und der Server ist nicht zu erreichen, ist – schlimm genug – nur diese Intanz vorläufig nicht zu erreichen. Alle anderen Instanzen funktioneren weiter, während die ausgefallene wieder ans Laufen gebracht wird. Wer weitere Accounts hat, kann sich ggf. über das Netzwerk auf dem Laufenden halten, wie es um die Instanz steht, kann möglicherweise weiter mit wichtigen Kontakten kommunizieren oder zeitkritische Nachrichten ins Netzwerk bringen. Das kann alltagspraktisch sein. Aber größer gedacht auch bei der Informationsübermittlung durch Oppositionsbewegungen. Während sich zentrale Dienste von autoritären Regimen leicht sperren lassen, ist ein Netzwerk aus Tausenden Domains möglicherweise nicht so einfach komplett auszuschließen.

Jeder Account eine Instanz – Die Idee vom Peer2Peer-Netzwerk

Ein in viele Accounts beherbergende Instanzen aufgeteiltes Netzwerk ist natürlich keine vollständige Dezentralisierung. Gerade wenn einzelne große Instanzen Hundertausende oder gar Millionen Accounts auf sich vereinen. Grundsätzlich könnte auch jetzt schon jede ihre eigene Instanz bei sich zuhause einrichten und somit ihr eigener Admin sein. Aber bisher sind die Hürden dafür noch viel zu hoch. Server-Administration, 1 Domain besitzen und steuern und die Komplexität der Instanz-Softwares – all das setzt immer noch ein vergleichsweise hohes technisches Kompetenz-Niveau voraus und lässt sich somit nicht auf die Breite der Gesellschaft übertragen. Dennoch arbeiten bereits Menschen an der Grundidee weiter. Warum sollte sich nicht eine einfache Smartphone-App als Einzelinstanz in ein Fediverse der Zukunft einhängen und so die aufwändige Server-Verwaltung überflüssig machen? Aber eine befriedigende Lösung in diesem Sinne scheint aktuell noch nicht unmittelbar vor der Tür zu stehen.

Tipps für 1 guten Start ins Fediverse

Neben der Auswahl einer passenden Instanz für den ersten Fediverse-Account kann auch das Wissen um einige mehr oder weniger verbreitete Feature, Konventionen und Strömungen bei der sanften Landung im neuen Netzwerk hilfreich sein.

Interessante Inhalte finden

Da im Fediverse anders als in kommerziellen Netzwerken wie Twitter, Insta oder Facebook keine intransparenten Algorithmen Inhalte in Deine Timeline oder Deinen Feed spülen, mag es dort direkt nach Account-Erschaffung noch sehr leer und langweilig aussehen. Ich sprach ja bereits von der Lokalen Timeline. Dort werden alle öffentlichen Posts Deiner Instanz angezeigt. Daneben gibt es die Öffentliche Timeline, in der alle öffentlichen Posts angezeigt werden, die Deine Instanz auch von anderen Instanzen empfangen hat, mit denen sie föderiert. Ab einer gewissen Instanzgröße und ohne jeden Filter empfängt Dich da eine ganz schön erschlagende Menge an Inhalt. In diesem sprichwörtlichen Heuhaufen noch die gewünschte Nadel zu finden, kann zu einer wenig lustvollen Bemühung geraten. Wie kommst Du nun an die für Dich besonders interessanten Inhalte?

Sobald Du einzelne Accounts identifiziert hast, deren Beiträge Dich ansprechen, solltest Du ihnen folgen. Die Beiträge dieser Accounts erscheinen dann ab sofort in Deiner Persönlichen Timeline. In manchen Apps kannst Du voreinstellen, ob Du nur deren eigene Beiträge angezeigt bekommen möchtest oder darüber hinaus auch alle Beiträge, die diese teilen – in Mastodon Boosts genannt. Über diese Boosts findest Du weitere Inhalte bzw. Accounts, die Dir zusagen, denen Du wieder folgst, sodass deren Beiträge in der Timeline angezeigt werden usw..

Auf diese Weise ist meine Liste der Accounts, denen ich folge, mittlerweile auf rund 300 angewachsen, was meine persönliche Timeline so sehr mit Inhalten füllt, dass ich lange nicht mehr alle Meldungen meiner Kontakte dort mitbekomme. Wenn ich den Anspruch hätte, alleine die in meiner persönlichen Timeline erscheinenden Beiträge jeden Tag durchzuarbeiten – ich hätte gut zu tun.

Hashtags

Trotzdem kann es schwierig sein, in den Weiten des Fediverse Beiträge zu den speziellen, Dich interessierenden Themen aufzuspüren. Es gibt zwar meist eine Suchfunktion, die durchforstet aber lediglich die Informationen, die Deine Instanz im Rahmen der Föderation bereits gesammelt hat. Es gibt keine Suche, die das ganze Fediverse abdeckt. Dafür gibt es gute technische und ethische Gründe, die ich hier nicht vertiefend beleuchten möchte. Außerdem kann nicht jede Instanz aus ressourcengründen eine Volltextsuche anbieten. Die Begrenztheit der Suche ist ein Grund für die hohe Bedeutung, die Hashtags – also Stichworten, denen eine Raute voran gesetzt ist – im Fediverse zukommt. In den meisten Apps sind diese Hashtags sinnvollerweise als Link anklickbar und führen so zu einer Übersicht aller Beiträge, die diesen Hashtag enthalten – wie im Fediverse üblich in chronologisch absteigender Reihenfolge. Klickst Du also z.B. auf den Hashtag , werden Dir die aktuellsten Beiträge, von denen Deine Instanz weiß, angezeigt, wenn sie den Hashtag Banane enthalten. Entsprechend kannst auch Du Deine eigenen öffentlichen Beiträge mit sinnvollen Hashtags versehen, damit Menschen, die sich für die damit abgebildeten Themen interessieren, sie ebenfalls über diesen Hashtag finden können. Ja – Deine öffentlichen Beiträge. Wenn Du für einen Beitrag eine andere Sichtbarkeitsstufe wählst – ich werde später noch auf diese Stufen eingehen – ist er nicht über die Hashtag-Funktion zu finden. Du kannst in ihnen zwar Hashtags setzen. Diese nutzen dann aber nur dazu, andere auf diese Hashtags hinzuweisen, damit sie über den Link bequem öffentliche Beiträge zum jeweiligen Thema aufrufen können. Bei der Verwendung von Hashtags solltest Du ein paar Aspekte beachten:

  • Verwendest Du in einem Beitrag zu viele Hashtags wird er eventuell unleserlich. Bzw. gehen die Dir eigentlich wichtigen Themen im Meer der Stichworte einfach unter und die Hervorhebung durch Hashtags verliert letztlich ihren Sinn.
  • Zur Verbesserung der Lesbarkeit empfielt es sich, aus mehreren Worten zusammengesetzte Hashtags so zu schreiben, dass jedes neue Wort darin durch Großschreibung kenntlich gemacht wird. Diese Schreibweise nennt sich CamelCase. Der Hashtag würde somit durch ein großes N, ein großes W und ein großes F strukturiert.
  • Für diese Schreibweise sind auch Menschen dankbar, die aufgrund einer Sehbehinderung auf Screenreader angewiesen sind. Also Programme, die ihnen die Inhalte auf einem Bildschirm vorlesen. Diese Programme sind in der Lage, die derart strukturierten Hashtags zu zerlegen und entsprechend verständlich vorzulesen.
  • Hashtags können Worte innerhalb des Beitrags auszeichnen oder auch an den Fuß des Beitrages gesetzt werden. Manchmal wird die zweite Variante gefordert, weil das die Lesbarkeit von Beiträgen verbessere.
Hashtags abonnieren

Ab der Version 4.0 der Server-Software von Mastodon lassen sich dort Hashtags auch abonnieren. Der Hashtag lässt sich so nicht mehr nur in einer separaten Ansicht verfolgen. Beiträge, die den abonnierten Hashtag enthalten, erscheinen schlichtweg auch in der persönlichen Timeline, wie die Beiträge der Befolgten. Ein ganz praktisches Feature, wie ich finde.

Hashtags filtern

Die meisten Fediverse-Apps bzw. die Instanz-Softwares selbst bieten verschiedene Möglichkeiten, Inhalte aus den Feeds auszuschließen. Es kann sich für den persönlichen Gebrauch sehr lohnen, die jeweiligen Funktionen kennenzulernen und so die alltägliche Benutzungserfahrung für sich verbessern zu können. Z.B. lassen sich so Hashtags bzw. Stichworte festlegen, nach denen Beiträge, die diese enthalten ausgefiltert werden, d.h. im Strom der Beiträge nicht mehr angezeigt werden. Mitunter lassen sich diesen Filtern sogar Zeitbegrenzungen zufügen, sodass sie nach Stunden, Tagen oder anderen Zeiträumen automatisch inaktiv werden. So könntest Du z.B. alle Beiträge mit dem Hashtag ausfiltern, wenn Du die Debatten, um eine unerträgliche Fernsehsendung nicht mitbekommen möchtst. Oder den #Fußball für 4 Wochen sperren, wenn Du die Weltmeisterschaft boykottieren möchtest, dich aber in Zukunft durchaus für Fußball-bezogene Beiträge interessierst. Anstatt also andere zu kritisieren oder gar zu entfolgen, weil sie episodisch oder allgemein deine Timeline mit Beiträgen zu dich störenden Themen fluten, könntest Du mit Hilfe von Filtern dieses Problem selbständig für Dich lösen.

Allerdings: Diese Lösung funktioniert ggf. nur lückenhaft. Denn sie setzt ja voraus, dass der betreffende Account auch wirklich jeden betreffenden Beitrag mit dem jeweiligen Hashtag versieht oder die von Dir gefilterten Stichworte enthält. Davon ist leider nicht immer auszugehen. Völlig unabhängig von der Mithilfe des Gegenübers wird 1 so also auch nicht. Und kommt gegebenenfalls nicht um die radikaleren Maßnahmen wie entfolgen, blocken oder stummschalten herum. Stummschaltung ist Dein Mittel der Wahl, wenn Du den Kontakt zu 1 Account grundsätzlich nicht missen möchtest, willst, dass der Account noch Deine Beiträge sieht und Dir private Nachrichten schreiben kann, Du aber wenigstens vorläufig auf die Beiträge dieses Accounts verzichten möchtest – aus welchem Grund auch immer. Manche Software erlaubt diese Stummschaltungen ebenfalls zeitlich zu begrenzen. Das kann eine gute Lösung sein, wenn mal jemand z.B. sehr hochfrequent von einer Veranstaltung berichtet und damit viel Raum in Deiner Timeline einnimmt, du an soviel Details dazu aber gar nicht interessiert bist.

Sichtbarkeit

Ich habe mehrfach von „öffentlich“en Beiträgen gesprochen. Damit wird auf die Sichtbarkeits-Eigenschaft von Beiträgen eingegangen. Sie bestimmt, welchen Teilnehmer*innen des Fediverse der Beitrag angezeigt werden soll.

Die Standard-Option öffentlich bedeutet, dass im Grunde alle auf diesen Beitrag zugreifen können. Auch Menschen ohne Fediverse-Account können ihn sehen, wenn ihnen dessen Webadresse vorliegt oder sie sich das Profil des postenden Accounts ansehen. Der Beitrag erscheint in öffentlicher und lokaler Timeline, ist Teil der Hashtag-Suche und kann von anderen geteilt bzw. geboostet werden.

Nicht gelistet bedeutet, dass der Beitrag zwar auch im Profil und mittels Link von allen angesehen und geboostet werden kann. Er erscheint aber nicht in der öffentlichen oder lokalen Timeline und kann nicht über die Hashtag-Suche aufgespürt werden. Diese Einstellung eignet sich vor allem für Threads bzw. für Diskussionen unter einem Beitrag. Wie vorhin erwähnt wünschen auch manche thematisch ausgerichteten Instanzen, dass ihre Mitglieder Beiträge, die nicht das gemeinsame Thema betreffen, auf nicht gelistet stellen, damit die lokale Timeline exklusiv diesem Thema vorbehalten bleibt. Manchmal möchte man aber auch einfach nicht ganz so viel Aufmerksamkeit für einen Beitrag, z.B. weil er außerhalb der eigenen Blase als kontrovers angesehen wird und man feindselige Reaktionen aus bestimmten Richtungen vermeiden will.

Nur für Folgende schränkt den Empfänger*innen-Kreis noch weiter ein. Dein Beitrag wird so nur den Dir folgenden Accounts und Accounts, die im Beitrag mit ihrem Handle erwähnt werden, angezeigt. Er kann nicht geboostet werden. So solltest Du die Inhalte markieren, von denen Du nicht möchtest, dass sie sich über Deine Folgenden-Blase hinaus verbreiten.

Unterliege aber bitte nicht dem Missverständnis, diese Beiträge wären vor unerwünschten Blicken wirklich sicher! Abgesehen davon, dass jede der verbleibenden Empfänger*innen ihn – Deinen Wünschen widersprechend – über den vorgesehenen Kreis hinaus verbreiten könnte. Durch Copy/Paste, Zitat oder Screenshot. Abgesehen davon wird der Beitrag ja immer zu den verschiedenen Instanzen Deiner Folgenden übertragen. Und die Sichtbarkeits-Eigenschaft ist lediglich ein einfacher Wert, der dorthin mit übergeben wird. Was die Instanz-Software damit macht, wie sie ihn berücksichtigt und darstellt, darüber hast Du am Ende keinerlei Kontrolle. Du musst Dich also darauf verlassen, dass die Admins der Instanzen und die von ihnen betriebene Software Deine Sichtbarkeitswünsche respektieren und deine Beiträge auch wirklich nur entsprechend deiner Entscheidung ausliefern. Erfährst Du davon, dass eine Instanz dieses Vertrauen bricht, solltest Du sie unbedingt blockieren und ggf. die Administrator*innen Deiner Instanz davon unterrichten.

Direktnachrichten

Dasselbe Vertrauensprinzip gilt für als Direktnachrichten markierte Beiträge. Sie sollten wunschgemäß nur an die darin mit Handle erwähnten Accounts und damit deren Instanzen ausgeliefert werden und sonst nirgends auftauchen. Dennoch – und es kann nicht oft genug gesagt werden: Direktnachrichten sind einfach nur normale Beiträge, denen die Eigenschaft „Direktnachricht“ angehängt wurde. Sie werden also genauso zwischen den beteiligten Instanzen übertragen wie öffentliche Posts und wir verlassen uns darauf, dass die beteiligten Instanzen mit ihnen so umgehen, wie wir das standardgemäß von ihnen erwarten. Grundsätzlich kann aber auch hier jede Admin der an der Kommunikation beteiligten Instanzen auf diese unverschlüsselten Nachrichten zugreifen und sie lesen und/oder weitergeben.

Wenn Du also wirklich vertraulich mit anderen Menschen kommunizieren willst, sind Direktnachrichten im Fediverse dazu absolut ungeeignet. Statt dessen würde ich empfehlen, Kontaktdaten für die Kommunikation über verschlüsselte Messenger wie Matrix, Threema oder ähnliche auszutauschen und erst dort den vertraulichen Austausch fortzusetzen.

Ein für Direktnachrichten ebenfalls sehr wichtiger Hinweis ist, dass das Aufführen eines Account-Handles in einem Beitrag immer dazu führt, dass er an die erwähnte Person ausgeliefert wird. Egal welche Sichtbarkeit ich auswähle. Wenn ich also ÜBER einen anderen Account schreiben möchte, OHNE dass dieser das mitbekommt, sollte ich auf keinen Fall dieses Handle im Beitrag verwenden, denn dann schreibe ich plötzlich MIT diesem Account, was ich ja vielleicht exakt gar nicht möchte. Beim Bezug auf Accounts in Beiträgen ist also immer große Sorgfalt angesagt.

Geschlossene Accounts

Nicht nur möchte 1 sich manchmal nur an den begrenzten Kreis der 1 Folgenden richten. Unter Umständen möchte 1 diesen Kreis auch noch bewusst kontrollieren. Denn im default-Zustand kann jeder andere Fediverse-Account Deinem Account folgen. Je nach Einstellung lässt Du Dich darüber benachrichtigen oder die Folgenden-Zahl wächst von Dir völlig unbemerkt weiter an. Für manche Accounts wird das so in Ordnung sein, denn die Gruppe der Folgenden bildet bei ihnen keine persönlichen Beziehungen zu ihnen ab. Gruppen oder Einrichtungen, die über das Fediverse überwiegend Neugikeiten von sich verbreiten wollen, aber keinen gesteigerten Wert auf tiefere Interaktion legen zum Beispiel. Bei Accounts von Privatpersonen mögen die Bedürfnisse anders liegen. Vor allem Menschen, die Erfahrung mit Belästigungen, Übergriffen, Hassnachrichten und / oder offensiver Ignoranz gemacht haben, haben häufig ein höheres Bedürfnis nach Abgrenzung und Kontrolle. Aber auch Menschen, die von zuviel Interaktion auf einmal leicht überfordert werden, wollen den Kreis potenzieller Empfänger*innen manchmal gern übersichtlich halten. Für solche und ähnliche Lagen ist es möglich, den eigenen Account in seinen Einstellungen auf der Instanz als geschlossen oder geschützt zu markieren. Für Außenstehende wird ein solcher Account in der Regel durch das Symbol eines Vorhängeschlosses in der Profilansicht gekennzeichnet. Ihnen wird zwar weiterhin die Folgen-Schaltfläche angezeigt. Deren Betätigung bewirkt aber nicht unmittelbar eine Aufnahme in den Kreis der Folgenden sondern löst eine Folge-Anfrage aus. Erst wenn die von der Account-Inhaberin positiv beschieden wird, wird der anfragende Account in die Folgenden-Liste aufgenommen. Ein geschlossener Account wirkt sich also nur auf die Nur an Folgende-Posts aus, indem die Gruppe der Folgenden auf einzeln bestätigte Accounts beschränkt wird. Öffentlich und nicht gelistet-Beiträge sind genauso für alle sichtbar wie sonst. Sie tauchen für Nicht-Folgende nur eben nicht in der persönlichen Timeline auf. Wer Eure unbeschränkten Beiträge jedoch verfolgen möchte, kann diese weiterhin entweder durch Aufrufen Eures Profils tun. Oder dessen Webadresse um die Endung .rss erweitern und ihnen komfortabel mit einem RSS-Reader folgen.

Alles schön kuschlig hier?

Wie schon mehrfach angesprochen: Trotz des anhaltenden Narrativs, dass es im Fediverse so kuschlig und nett im Vergleich z.B. zu Twitter sei, bewegen wir uns auch hier nicht auf der Insel der Glückseligen. Die berichteten Positiv-Erfahrungen lassen sich durch verschiedene Faktoren erklären, von denen wenige die Hoffnung auf überdauernde Effekte nähren.

Da ist zunächst die im Vergleich zu anderen Netzwerken erheblich geringere Nutzer*innen-Basis. So beeindruckend die Accountzahlen in Millionenhöhe auch wirken mögen, repräsentieren sie nur einen Bruchteil der Größe kommerzieller Netzwerke. Zumal die Anzahl der angelegten Konten für die Dynamik im Netzwerk sehr viel weniger relevant ist, als die Zahl täglich abgefeuerter Beiträge. Es darf davon ausgegangen werden, dass der Abstand zu den kommerziellen Netzwerken nach diesem Kriterium sogar noch deutlich beträchtlicher ausfällt.

Zweitens muss von einer bisher hohen Selektivität hinsichtlich der Fediverse-Nutzer*innen-Basis ausgegangen werden. Während die kommerziellen Netzwerke von der breiten Masse bespielt werden, haben sich für’s Fediverse nur bestimmte Gruppen entschieden. In einer so vorselektierten, dadurch homogeneren Blase ist mit höherer Meinungs- und Bedürfnisübereinstimmung zu rechnen, was sich für die Teilnehmer*innen nachvollziehbar auf den Gemütlichkeitsfaktor auswirken wird.

Bereits jetzt nach der Muskschen Twitter-Übernahme und dem erheblichen und andauernden Wachstum des Fediverses zeichnet sich ab, dass mit jedem Schwung Neu-Nutzer*innen auch die Heterogenität und die Interaktionsdynamik im Netzwerk steigen. So ist davon auszugehen, dass sich mit gruppenübergreifender Annahme eines Netzwerks schließlich auch die gesellschaftlichen Verhältnisse und Konflikte abbilden werden und die empfundene Kuschligkeit nachlassen wird.

Andererseits bleibt abzuwarten, wie sich das Fehlen profitorientierter Konfliktbefeuerung langfristig auf das Miteinander im Fediverse auswirkt. Algorithmen, die extreme Äußerungen durch mehr Repräsentation belohnen, weil mehr Konflikt auch für das Netzwerk mehr Aufmerksamkeitsbindung und damit Werbeeinnahmen generiert, gibt es hier nicht. Die beschriebenen Abgrenzungsmöglichkeiten im Rahmen der dezentralen Organisation in autonom entscheidende Instanzen sind ebenfalls potenziell geeignet, Reibung zu reduzieren und sicherere Rückzugsräume zu schaffen. Aber all die durchaus bewusst gewählten Unterschiede zu den kommerziellen Netzwerken müssen sich in der Realität bewähren. Es wird sich zeigen, inwieweit toxische Algorithmen und fehlender Moderationswille zu gesellschaftlichen Konfliktlagen beitragen, Hass zwischen Konfliktierenden fördern und so konstruktives und solidarisches Miteinander sabotieren.

Exkurs: Marginalisierung, Privilegierung und die Intersektion

Für ein Verständnis dafür, warum einige Menschen das Fediverse als gemütlich und kuschlig erleben, andere hingegen sogar gegenteilige Erfahrungen berichten und sich zum Teil wieder von hier zurückziehen, müssen wir über Privilegien und Marginalisierung, d.h. Diskriminierung, Benachteiligung und Ausgrenzung, sprechen. Um sich im Fediverse mühelos zuhause und wohl zu fühlen, ist es wie auch sonst im Leben extrem hilfreich weiß, männlich und heterosexuell gelesen zu werden. Aus dem Bildungsbürgertum zu stammen hilft ebenfalls sehr, da der frühe Zugang zu Informationstechnologie die Überwindung der höheren Zugänglichkeitshürden erleichtert und seine Mitglieder sich meist bereits an der Sprache erkennen und gegenseitig unterstützen. Es stellt den größten Teil der IT- und Hacker*innen-Subkultur, denn um sich Fachwissen, Technik und Kollaborationssysteme anzueignen, braucht es selbstbestimmte Zeit, hinreichende finanzielle Ressourcen und günstige transgenerationale Beziehungen. Zwar ist niemand gezwungen, diese Hintergrundinformationen über sich im Fediverse bekannt zu geben. Privilegien und Marginalisierungsfaktoren drücken und wirken sich aber selbst in völliger Anonymität aus. Sexistische Demütigungen treffen Frauen, Transpersonen und Nichtbinäre auch, wenn sie nicht direkt in ihre Richtung ausgesprochen werden. Rassismus trifft Schwarze, Indigene und People of Color genauso, wenn niemand weiß, dass sie Schwarz, indigen oder PoC sind. Menschen aus Arbeiter*innen-Klasse und Prekariat erleben die Klassenunterschiede, d.h. ihre systematischen Benachteiligungen immer im Kontakt mit Bildungsbürgertum und Oberschicht genauso wie Menschen mit Behinderungen oder langfristigen Erkrankungen erleben, dass sie von den ablen Menschen nie mitgedacht werden. Wie in der Außengesellschaft endet das Ideal der vorherrschenden Mehrheit bestenfalls bei der Idee der Gleich-Berechtigung. Eine Gleich-Stellung, die eine Teilhabe auf Augenhöhe zum Ziel hat, würde die freiwillige Abgabe von Privilegien bzw. den Verzicht ihrer Nutzung zugunsten der Marginalisierten voraussetzen. Sobald die Bedürfnisse der Marginalisierten eine Einschränkung bei der Verfolgung eigener Interessen bedeutet, verlässt gute Menschen oft ihre gerechte Motivation. Benachteiligte, die Maßnahmen zu ihrer Gleichstellung fordern, werden oft als nervig, anstrengend oder schwierige abgekanzelt, ihre Anliegen als übertrieben, nebensächlich oder unplausibel.

Die entmutigenden, verletzenden und invalidierenden Erfahrungen lassen Betroffene sich im Zweifel zurückziehen. Sie und ihre Bedürfnisse verlieren damit weiter an Repräsentanz, an Sichtbarkeit. Die Marginalisierung, d.h. faktisches individuelles Leid wird so erhalten, meist sogar verschlimmert. Marginalisierung betrifft dabei nicht alle Marginalisierten im selben Ausmaß. Einzelne sind vergleichsweise gut in von Privilegierten dominierten Gruppen eingebunden und sind nachvollziehbarerweise froh darüber. Manche mögen sich gar nicht als marginalisiert identifizieren. Andere werden aufgrund mehrerer Merkmale marginalisiert, ggf. sogar zusätzlich innerhalb einer marginalisierten Gruppe, z.B. als schwarze Feministin, als Transfrau, als Migrantin mit psychischer Erkrankung, als homosexuelle Person of Color usw.. Diese Überschneidung von Marginalisierungsmerkmalen wird als Intersektionalität bezeichnet.

Die aus Privilegien und Marginalisierung entstandene Ungleichstellung ist nicht zwangsläufig. Privilegien und Marginalisierung sind das Ergebnis von Machtausübung, Unterwerfung und bestenfalls opportunistischer Ignoranz. Die Menschen in einer Gesellschaft haben die Verantwortung dafür, bestehende Ungleichstellung aufzulösen. Daraus ergibt sich eine persönliche Verpflichtung, eigene Privilegien in Frage zu stellen und ggf. als erhaltender Faktor für die Benachteiligung zu erkennen. Wir kennen diesen Gedanken unter dem Begriff der Solidarität.

OK, aber was heißt das für’s Fediverse?

Während wir in den kommerziellen, zentralen Netzwerken i.d.R. wenig bis keinerlei Gestaltungsspielraum besitzen, erlaubt die dezentrale, föderative Struktur des Fediverse uns sehr viel mehr aktiv für die Gleichstellung der an ihm Beteiligten zu tun. Neben Verhaltens-Leitlinien (Code of Conduct), Serverregeln und Sanktionen gegen offen feindseliges Verhalten, können an den Wünschen und geäußerten Bedürfnissen Marginalisierter ausgerichtete Konventionen, Feature und Initiativen für eine Willkommenskultur sorgen, die diesen Namen auch ernsthaft verdient. Eine Gemeinschaft, in der sich Marginalisierte weniger willkommen fühlen als die privilegierte Mehrheit, ist nicht offen, ist nicht solidarisch, entspricht nicht den Werten, denen sich viele in der Mehrheit eigentlich verbunden erklären. Um diese Diskrepanz zwischen eigenem Anspruch und alltäglicher Praxis zu reduzieren, gibt es ein paar meiner Meinung nach vergleichsweise unaufwändige Standards zu erlernen und sich anzueignen.

Inhaltswarnungen bzw. CW

Nicht überall im Fediverse, aber zumindest doch bei Mastodon, PixelFed und GoToSocial können Beiträge mit einer Inhaltswarnung, engl. Content Warning, oder kurz CW gekennzeichnet werden. Vergleichbar einer Überschrift werden in einem zusätzlichen Formularfeld Stichworte oder Sätze eingetragen, die potenziell belastende Bestandteile des Beitrags beschreiben. Auch bei Twitter wurden von einigen Communities solche Kennzeichnungs-Konventionen entwickelt und eingesetzt. Dort fanden sie aber keine technische Unterstützung wie bei den erwähnten Fediverse-Softwares. Hier werden Beiträge nämlich standardmäßig zusammengeklappt dargestellt, wenn sie mit einer CW versehen wurden. Es ist also zunächst kein Beitragstext sondern nur die CW zu lesen. Entscheidet sich die empfangende Person, dass sie mit dem angekündigten Inhalt gerade zurecht kommt, drückt sie auf eine Schaltfläche an diesem Beitrag und öffnet ihn damit, sodass der Inhalt lesbar wird. Dieses Feature hat den Einsatz von Inhaltswarnungen so leicht und effizient gemacht, dass Teile des Fediverse ihren frühen Anwendungsbereich deutlich ausgedehnt haben, ihren niedrigstschwelligen Einsatz fordern. Leider sind CW bzw. deren Forderung immer wieder Gegenstand heftiger Diskussionen im Fediverse. Die sich wiederholenden Argumente lassen sich aufwandslos im Fediverse suchen, finden und ihr nächstes Auftauchen abwarten. Diese Wiederholungen erklären sich meiner Meinung nach aus meinen vorigen Ausführungen zu Privilegien und Marginalisierung. Menschen, die wenig bis keine Marginalisierungserfahrungen haben, haben mitunter Schwierigkeiten, sich in die konkreten Lebenssituationen von Marginalisierten einzufühlen und tuen deren Beschwerden, Wünsche und Forderungen schnell ab. Sei es aus Bequemlichkeit oder weil sie ihr einschränkungsfreies Posten für bedeutsamer für „das Große Ganze“ halten, als den Schwierigkeiten einzelner Marginalisierter praktisch entgegenzutreten. Schlimmstenfalls werden noch die ggf. konträren Wünsche unterschiedlicher marginalisierter Gruppen ausgespielt, um sich selbst von der Anforderung befreien zu können. Zum Beispiel wenn Marginalisierte selbst sich weigern, Beiträge zu ihrer eigenen Marginalisierung, zu Angriffen und Belästigungen gegen sie mit einer CW zu versehen. Diese Weigerung ist völlig legitim, entbindet aber Privilegierte nicht von der durch CW umgesetzten Rücksichtnahme und Verantwortung. Privilegierte, die sich diese Weigerung zu eigen machen, missbrauchen den Kampf um Sichtbarkeit Marginalisierter zu ihrer eigenen Entlastung. Das ist ein nicht vertretbarer Zug. Was sollte denn nun eigentlich alles hinter so 1 CW? Die generische Antwort darauf lautet: Wenn Du weißt oder Dir vorstellen kannst, dass der Inhalt belastend für 1 Person sein kann, benutze 1 CW. Bist Du selbst von einer Marginalisierung nicht betroffen, werden Dir mit hoher Wahrscheinlichkeit bestimmte Belastungsauslöser nicht klar sein, weil Du sie selbst eben nicht erlebst und evtl. auch nicht vorstellen kannst. Das ist keine Schande! Du wirst aber im Fediverse die Gelegenheit haben, mehr darüber zu lernen. Du wirst sehen, wo und wie andere CW einsetzen und kannst das imitieren. Manchmal werden Dich Menschen offen darum bitten, bestimmte Beitragsinhalte zukünftig mit 1 CW zu versehen. Du wirst feststellen, dass der Aufwand dafür sich wirklich in Grenzen hält. 2 oder 3 Stichworte in ein Feld einzugeben wird dich kaum mehr als 10 Sekunden Aufwand kosten. Betroffenen kannst Du damit mitunter einen ganzen Tag retten. Ein guter Deal, oder? Von Privilegierten kommt häufig die Klage, sie müssten bei so weitflächigem CW-Einsatz ja ständig klicken, um Beiträge lesen zu können. Das sei nun wirklich ein nicht zu rechtfertigender Aufwand. Rechne selbst einmal nach, ob du das auch so unverhältnismäßig findest … Selbst wenn Du das auch so sehen würdest, wurde für dieses „Problem“ bereits eine recht einfache technische Lösung gefunden. Erstens kannst Du in den Einstellungen Deines Kontos angeben, dass alle CW-markierten Beiträge automatisch aufgeklappt angezeigt werden. CW-Aufklapp-Thema für alle, die damit 1 Problem haben, gelöst! Zweitens kannst Du mit einem Klick auf einen Beitrag den ganzen Diskussionsbaum öffnen und findest an dessen Krone eine Schaltfläche, mit der Du alle Beiträge der Diskussion mit 1 Klick aufklappen kannst. Für diese Probleme einiger Privilegierter wurden also ratzfatz technische Lösungen gefunden. Wenn es umgekehrt doch nur auch immer so schnell ginge …

Übrigens profitieren selbstverständlich nicht nur Marginalisierte von CW. Auch im Leben von Privilegierten gibt es Phasen der Überforderung, der geringen Belastbarkeit und des Bedarfs, sich nur mal ein wenig in Watte gepackt durch die Kontakte im sozialen Netzwerk und ein paar leichte, gefällige Inhalte emotional über Wasser zu halten. Oder 1 möchte ganz banal nicht über Inhalte einer Fernsehserie gespoilert werden, mag sich nicht durch ellenlange Massenthreads einer Live-Berichterstattung scrollen oder schlicht an einer Diskussion in der eigenen Bubble nicht länger teilhaben müssen. Ganz fern gehalten werden die Inhalte durch CW dennoch nicht von denen, die sie erbitten. Die ewig wiederkehrenden Unterstellungen, CWs stellten eine Zensur der Beiträge dar, reduzierten Reichweite oder dienten dem Verdrängen nunmal in der Wirklichkeit vorkommender Themen, sind bei näherer Betrachtung haltlos. CWs lassen die Themen eben gerade in der persönlichen Timeline vorkommen. Anders als die angesprochenen Filter, erlauben sie den Nutzer*innen eine situationsspezifische Entscheidung. Sie verbessern über diese Selbstbestimmungsoption somit die Teilhabe von Menschen mit geringerer Belastbarkeit am politischen Diskurs, weil sie nicht dichotom irgendwann entscheiden müssen, ob sie ein Thema immer ertragen können oder nie. Somit wird die Reichweite von Beiträgen auch nicht vermindert sondern um marginalisierte Leser*innen erhöht. Ich halte die Sorge um Reichweitenverluste übrigens auch deshalb für übertrieben, da unsere Erfahrungen mit Schlagzeilen, also Überschriften, im Internet nicht darauf hindeuten, dass Menschen Artikel seltener lesen, weil sie nicht sofort den gesamten Text präsentiert bekommen. Außerdem gibt es bereits eine beträchtliche Menge an Fediverse-Nutzer*innen, die gewohnheitsmäßig fast jeden Beitrag mit CW versehen – weil es im Zweifel einfach nicht schadet. Diese Nutzer*innen haben zahlreiche Folgende, ihre Beiträge werden weiterhin favorisiert und geteilt. Sie berichten keine langfristigen Einschränkungen.

Ich fasse zusammen: CW sind Ausdruck der Rücksichtnahme auf Menschen, deren Chancen zur Selbststeuerung durch sie verbessert werden und so ihre Teilhabe an der Gemeinschaft verbessern können. CW erhalten als Vorstufe zu Filtern die Sichtbarkeit belastender Themen und erhöhen damit potenziell die eigene Reichweite über die privilegierte Blase hinaus. Insbesondere unter Mastodon und zahlreichen Fediverse-Apps ist ihre Darstellung in hohem Maße an eigene Bedürfnisse anpassbar. Der zusätzliche Aufwand beim Versehen von Beiträgen mit CW entspricht etwa dem Aufwand Hashtags hinzuzufügen. Diesen Aufwand auf sich zu nehmen ist eine grundlegende Wertschätzung der Folgenden, die ihren Einsatz erbitten und allgemein aller Netzwerk-Teilnehmenden, die von ihnen profitieren könnten.

Bildbeschreibungen

Ein weiteres Feature, das die Teilhabe entscheidend verbessern kann, ist die Bildbeschreibung, im Deutschen oft als BiBesch abgekürzt. Ihr primäres Ziel ist, Menschen mit Sehbehinderungen, eine möglichst gleichwertige Teilhabe am Fediverse zu ermöglichen. Wann immer Du ein Foto, eine Zeichnung, einen Clip an deine Beiträge hängst, füge ihnen eine Beschreibung bei, was sie uneingeschränkt Sehenden mitteilen. Viele der Dienste im Fediverse bieten bereits die Möglichkeit, während des Hochlade-Vorgangs eine solche Bildbeschreibung hinzuzufügen. Menschen, die auf sogenannte Screenreader angewiesen sind, bekommen diesen Text an der Stelle vorgelesen, an der uneingeschränkt Sehende das Bild präsentiert bekommen. Bietet Dein Dienst oder Deine App diesen Service nicht, füge die BiBesch entweder Deinem Beitrag hinzu oder packe sie in eine Antwort auf Deinen Beitrag. Natürlich widerspricht das Versehen von Medien mit Bildbeschreibungen wie der Einsatz von Content Warnings unseren Bequemlichkeitsimpulsen. Wenn Du Motivation suchst, um diese Impulse zugunsten von Menschen mit Sehbehinderungen zu überwinden, kannst Du experimentell mal Deine App oder deinen Browser-Tab so einstellen, dass Bilder nicht angezeigt werden. Probier diesen Modus mal für eine halbe Stunde aus. Und dann versuch Dir vorzustellen, wie es sein muss, tagtäglich von dieser Menge an Inhalten in Deinem sozialen Netzwerk ausgeschlossen zu werden, weil es Menschen zu mühsam ist, ihren Medien wenigstens kurze Inhaltsangaben beizufügen.

Übrigens berichten auch bei diesem Feature Nicht-Betroffene von erfreulichen Nebeneffekten. Nicht immer erschließt sich aus einem Bild selbst nämlich, was die postende Person eigentlich damit sagen möchte oder was darauf dargestellt ist. Wie nützlich auch für uneingeschränkt Sehende, wenn sich die Pointe durch den angehängten Begleittext aufklären lässt! Und hinter Fotos von Natur-Motiven finden sich manchmal Beschreibungen nahezu lyrischer Qualität, was ebenfalls bereits seine Liebhaber*innen gefunden hat.

Da Du eben die Perspektive von Menschen einnimmst, die sich die Bildschirm-Inhalte vorlesen lassen: Versuche einmal nachzuvollziehen, welche Konsequenzen die hübschen Verzierungen von Profilnahmen mittels Emoticon- und Sonderzeichen-Ketten für solche Menschen haben. Stell Dir vor, bei jedem Beitrag, den Du hören möchtest, würden dieser Profilname vorgelesen – inklusive der 5 Landesflaggen, des Clown-Smileys, der Halloween-Hexe, des Feuerwerks, der Konfettibombe und der 5 Auführungen von Herz-Emojis. Und jetzt überlege nochmal, ob all das wirklich in deinen Profilnamen muss.

Profile

Wenn Du zu einem rücksichtsvollen Miteinander im Fediverse beitragen möchtest, solltest Du Dir auch den regelmäßgen Blick auf die Profilseiten der Teilnehmer*innen angewöhnen, mit denen Du zu interagieren gedenkst. Dort teilen viele Nutzer*innen Bedürfnisse und Wünsche an Interaktion mit. Viele erwähnen dort ihre bevorzugten Pronomen, also wie sie gerne angesprochen werden möchten. Neben den der cis-Norm entsprechenden Pronomen er und sie wirst Du dort auf sogenannte Neo-Pronomen wie ser, sier, dier oder dey treffen, die Dir in Deinem Leben bisher vielleicht noch nie begegnet sind. Manche wünschen, dass ihnen einfach kein Pronomen zugeordnet und einfach stets der Name ausgesprochen wird. Wenn es Dir wichtig ist, die Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen Deiner Mitmenschen zu respektieren, schau vor einer Kontaktaufnahme auf den Profilen nach solchen Informationen – die sich über die Zeit hinweg schließlich auch ändern können. Es ist übrigens solidarisch, das eigene Profil mit Angaben zu den erwünschten Pronomen selbst dann zu versehen, wenn 1 sich mit den cis-normativen Pronomen er oder sie ansprechen lassen möchte. Das normalisiert die Grundannahme, dass Menschen selbst über die jeweilige Ansprache entscheiden dürfen und reduziert das Herausgestelltsein der Menschen, die davon abweichende Pronomen einfordern müssen. Im Profil stehen gelegentlich auch Informationen dazu, ob ein Account uneingeladene DirektNachrichten oder Folgeanfragen bekommen möchte, bzw. unter welchen Bedingungen sie Folgeanfragen annehmen werden. Solche Angaben finden sich manchmal nicht nur in der Profilübersicht sondern auch in sogenannten angepinnten Beiträgen in der Beitragsansicht darunter. Angepinnte Beiträge werden immer als oberster Beitrag angezeigt, alle anderen erscheinen darunter in gewohnt chronologischer Reihenfolge. Angepinnte Beiträge eignen sich insgesamt zur MItteilung jeder Art von übedauernd wichtigen Informationen. Du hast ein neue Folge Deines Podcasts rausgegeben und möchtest, dass die Beschreibung dazu als erstes in Deinem Feed angezeigt wird? Oder möchtest Du Menschen Deine Policy im Umgang mit CW oder sogenannten CrossPosts von Twitter mitteilen, und für die Profilseite ist das zuviel? Gepinnte Beiträge bieten Dir die Chance, diese wichtigen Informationen auf Dauer hervorzuheben. Allerdings werden sie noch längst nicht von allen Diensten und Apps auch als gepinnte Beiträge dargestellt.

Epilog

So, das waren vermutlich mehr als genug Empfehlungen für Deinen Einstieg ins Fediverse. Mir ist klar, dass das recht viel Information auf einmal war. Vielleicht wolltest Du nur ganz unverbindlich mal ins Fediverse hineinschnuppern und bist noch gar nicht sicher, ob Du dort überhaupt bleiben willst. Da können so viel neue Informationen und Erwartungen etwas überfordernd sein und vielleicht sogar abschrecken. Aber andererseits ist es vielleicht ganz gut, all das zusammengefasst in einem Podcast gehört zu haben, bevor Du Dich im Netzwerk im direkten Kontakt damit konfrontiert siehst und nicht weißt, wie Dir geschieht. Jetzt weißt Du schon von ein paar Anforderungen, auf die treffen könntest und konntest Dir in Ruhe und ohne Druck Deine Gedanken darüber machen, wie Du mit ihnen umgehen willst. Und vielleicht helfen Dir einige der Tipps auch dabei, manches gar nicht als so herausfordernd zu erleben. Dann lassen sich die ebenfalls vorgestellten Vorzüge des Fediverse viel entspannter genießen und würdigen und Du findest einen angenehmen Start und hoffentlich viel interessante und unterstützende Kontakte dort. Für den Fall, dass noch weitere Fragen bei Deiner Reise durch’s Fediverse aufkommen möchte ich Dir noch zwei abschließende Tipps mit auf den Weg geben:

  1. Auf der Webseite https://fedi.tips oder über die Suche nach dem Hashtag findest Du weitere nützliche Informationen. Die Webseite ist allerdings in Englischer Sprache.
  2. Wenn Du via Beitrag ins Netzwerk fragen möchtest, ist das natürlich auch völlig in Ordnung. Bedenke aber, dass die Rückmeldung in diesem Fall vielfältig und reichhaltig sein kann. Eventuell ist es erstmal schlauer die Frage nur an Deine Folgenden zu richten. Vor allem wenn Du weißt, dass sich darunter nette hilfsbereite Personen befinden, deren Aufmerksamkeit Dir auch behaglich ist.

Jetzt aber los! Viel Spaß im Fediverse, auf welche Weise auch immer Du daran teilnimmst. Danke für Deine Ausdauer und Aufmerksamkeit!

Tonquellen:

Das Episodenbild

ist https://www.kuketz-blog.de/das-fediverse-unendliche-weiten-als-schaubild-diagramm/ entnommen

Post Skriptum: Euer Feedback!

  • Mastodon-Account der Plapperbu:de https://podcasts.social/@Plapperbude \
  • Matrix-Community der Plapperbu:de https://matrix.to/#/+plapperbude:ismus.net
  • Wenn Euch diese Folge oder gar die Plapperbude insgesamt gefallen sollten und ihr sie für empfehlenswert haltet:
    • Wir sind nicht und werden nicht bei Spotify oder iTunes gelistet sein. Also keine Bewertungen oder Likes dort möglich 🙂
    • Wir machen keine Werbung außer unsere Mastodon/Fediverse-Postings.
    • Ihr könnt uns allerdings bei fyyd.de favorisieren.
    • Ansonsten sagt uns einfach gern an Menschen weiter, von denen Ihr denkt, dass sie sich für unseren Podcast / diese Folge interessieren könnten – egal ob in SocialMedia, Messenger-Gruppen oder via Mund-zu-Mund-Empfehlung.

Mastodon-Account umgezogen

Nein, leider keine neue Folge der Plapperbude 🙂 Nur die Nachricht, dass der Mastodon-Account der Plapperbude auf die neue Instanz podcasts.social umgezogen ist.
Ihr findet die Plapperbude im Fediverse jetzt also unter @plapperbude@podcasts.social
Ich bedanke mich bei Milan für das Hosting des bisherigen Accounts auf social.tchncs.de! Es war alles super und der Umzug hat nichts mit tchncs.de zu tun 😉

Ich hoffe, der Umzug der bisher Folgenden hat störungsfrei funktioniert und niemand wurde abgehängt.

GaLiGrü,
Homer

PLBD015 BDSM

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Mitwirkende

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Homer S. (er)
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Feli (sie)
avatar
Finn (er)

Shownotes

Triggerwarnung

Hallo!

Schön, dass Du die Plapperbude hören möchtest.

In dieser Folge unterhalten wir uns über BDSM. Dabei werden wir auch über Inhalte sprechen, die die Bereiche Sexualität, Schmerz, Grenzverletzungen und sexualisierte Gewalt berühren. Aber auch psychische Erkrankungen, Rassismus und Heteronormativität finden Erwähnung.

Menschen reagieren bei diesen Inhalten sehr unterschiedlich und abhängig von ihrer aktuellen Verfassung. Manche Menschen können fast immer recht unbelastet über diese Themen sprechen, andere können allein von der Erwähnung bestimmter Begriffe emotional überwältigt werden und danach noch länger belastet davon sein.

Besonders wenn Du zu der zweiten Gruppe gehörst, achte beim Hören dieser Folge gut auf Dich und checke vorher nochmal kurz, ob Du heute für diese Inhalte bereit bist. Sie dauert rund dreieinhalb Stunden – vielleicht musst Du sie nicht unbedingt am Stück hören. Vielleicht kannst Du auch sicherstellen, dass im Notfall eine vertraute Person für Dich verfügbar ist, die Dir helfen kann, Dich wieder zu fangen und erstmal wieder zu stabilisieren.

BDSM?

  • steht für:
    • Bondage/Discipline: Fesseln und Züchtigen
    • Dominance/Submission: Dominanz und Unterwerfung
    • Sadismus/Masochismus: Lust am Schmerzzufügen bzw. Schmerzempfangen
  • Praktizierende verfolgen in der Regel einzelne dieser Interessen, nicht alle.

Vorstellung und Motivation

Feli und Finn führen das Gespräch mit mir, um BDSM etwas aus der Tabu-Ecke heraus zu holen, Klischees und Vorurteile zu korrigieren oder relativieren und schließlich bei den Zuhörer*innen vielleicht Interesse, zumindest aber Toleranz zu entwickeln.

Geschmacksrichtung „Vanilla“

  • Was Vanilleeis zu Eis ist BDSM zu Sex.

Nur mit oder auch mit ohne Sex?

  • BDSM kann sexuell sein, muss es aber nicht.
  • Vergleich mit küssen oder kuscheln – beides geht auch ohne Sex.
  • Gleiches gilt für Bindung: Praktizierende können sich emotional nahstehen oder weniger nah.

Was sind konkrete Beispiele für BDSM-Praxis?

  • Rieeeeeesiges Feld!
    • Viele individuelle Definitionen.
    • Jegliche Form des Spiels mit einem gespielten Machtegefälle zwischen mehreren Personen.
    • Feli: Einen sicheren Raum schaffen, in dem ich gesellschaftliche Regeln, Filter oder Normen experimentell fallen lassen, mich anders verhalten können, als ich es üblicherweise tue.
    • Verwandtschaft bzw. Schnittmenge mit Rollenspiel.
    • Erlebnisse mit jemandem unter gemeinsam vereinbartem Regel- oder Rahmenwerk.
      • Hohe Bedeutung von Konsens.
  • Beispiele:
    • Fesseln/Bondage
    • Kontrollierte Stimulation mit oder ohne Schmerz
    • Gegenseitiges „Dienen“ vs. Befehligen
    • Rollenspiele, i.d.R. mit einem Machtungleichgewicht

„Kink“ … aha? …

  • Vorlieben, die nicht in der Mainstream-Mehrheit geteilt werden.
  • Nicht Teil des gesellschaftlichen Standards.
  • Ähnlich mit Fetisch, aber stärker selbstgewählt und weniger medizinisch.
    • Abgrenzung zu Sexueller Fetischismus , im Diagnosemanual ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation leider als Störung der Sexualpräferenz geführt und damit klar pathologisierend.

Wie kann Schmerz was Tolles sein?!

  • Schmerz ist nicht gleich Schmerz: Der Kontext, in dem ein Reiz erlebt und interpretiert wird, ist entscheidend.
  • Feli: Für mich stressabbauend, bringt mich in ein anderes Körpergefühl, holt mich aus ständigem Denken.
  • In der Regel graduelle Steigerung von leichtem Reiz (z.B. Kitzeln) zu stärkerer Intensität (z.B. Schmerz). Es wird gemeinsam ausprobiert, welche Reizstärke von der empfangenden Person die erwünschte Befriedigung bewirkt.
  • Die Kombination dieser Schmerzreise mit z.B. Lust oder sexueller Erregung macht dabei oft das Erlebnis besonders oder verstärkt deren Intensität.

Wie das Runners‘ High …

  • Vergleich der Genussqualität mit dem Erleben von Langstreckenläufer*innen, bekannt als Runner’s High.
  • Weiteres Beispiel: Sehr scharfes Essen (ebenfalls ein Schmerzreiz), das einige Menschen offensichtlich sehr genießen.
  • Extremsport oder -erfahrungen, die eine starke Endorphinausschüttung und damit Euphorie nach sich ziehen können.

Spiel mit Grenzen? Was ist der Reiz bei BDSM?

  • Grenzerfahrungen sind ein großer, dennoch nur ein Teil von BDSM.
  • Einige Menschen wollen nur milde Reize bzw. nähern sich nicht wirklich den objektiven Grenzen an, sondern möchten auch im Spiel sicher in ihren individuellen Grenzen bleiben.

Nie ohne Konsens!

  • Einvernehmlichkeit: Ja heißt Ja! (Keine Antwort heißt somit auch Nein!)
  • Viele BDSM-Praktiken wären ohne klaren Konsens „Missbrauch“, Ausbeutung oder Gewalt.

FRIES

  • Freely given: Die beteiligten Personen können wirklich frei Nein sagen.
    • Abhängigkeiten oder drohende/befürchtete Konsequenzen können diese Freiheit einschränken.
    • Dieses Kriterium wäre somit nicht mehr als erfüllt zu betrachten.
  • Reversible: Die Zustimmung kann zu jedem Zeitpunkt wieder entzogen werden.
    • ohne Bedingungen, Verzögerungen oder Sanktionen (Strafandrohungen).
  • Informed: Die beteiligten Personen verfügen über alle notwendigen Informationen, um ihre Entscheidung verantwortlich zu treffen.
    • z.B. die Aufklärung über Nebnweirkungen und Risiken bei medizinischen Maßnahmen wie Imfpungen, Operationen oder Medikamentenverschreibungen.
  • Enthusiastic: Die beteiligten Personen sind nicht unentschlossen, gleichgültig oder zögerlich bezüglich einer geplanten Aktivität, sondern lustvoll entschlossen.
    • Hier haben wir wieder die Notwendigkeit eines klaren Ja!
  • Specific: Die Zustimmung beschränkt sich auf eine klar vereinbarte abgegrenzte Aktivität.
    • Es wird somit kein pauschaler Freifahrtsschein für z.B. „Du darfst mir weh tun“ gestellt.
    • Sondern z.B. „Ich fänd’s gut, wenn Du mir jetzt – nicht zu fest – auf den Po schlägst.“
  • BDSM unter der Voraussetzung von Konsens bedeutet also keine vollständige Kontrollabgabe und damit nie die Aufgabe von Sicherheit.

Das Eis-Essen-Geh-Beispiel

  • Es geht aber nicht nur um Sicherheit, sondern auch darum, dass sichergestellt wird, dass ich bekomme, was ich will (und die anderen Beteiligten auch).
    • Finns Eis-Essen-Geh-Beispiel für FRIES-Konsensualität.
    • Sensibilität für emotionale Abhängigkeit wichtig.
  • Vertrauen ist ein beidseitiges Bedürfnis, FRIES sollen beiden Seiten Sicherheit geben.
    • Klarheit kann sicherstellen, dass meine Grenzen respektiert werden
    • aber auch, dass ich die Grenzen der anderen Person achten kann.Safe-Words und -Codes

Safewords und -codes

  • In spannungsreichen Situationen fallen Denken und verbale Kommunikation angesichts intensiver Erfahrungen manchmal schwer.
    • aus Sicherheitsgründen können sehr kurze Codes oder alternative nonverbale Signale daher hilfreich sein
    • z.B. das bekannte Ampelsystem (rot/gelb/grün).
    • Beide Seiten sind verantwortlich die Situation regelmäßig zu überprüfen.
    • Die Codes sollen eindeutig sein und die Situation zweifelsfrei und umgehend beenden
      • v.a. wenn übliche Abbruchssignale bewussst Teil eines Rollenspiels sein können.

Von der Schwierigkeit „Nein“ zu sagen

  • Manche Menschen haben außerdem bereits im Alltag große Schwierigkeiten, anderen Menschen ein klares Nein ins Gesicht zu sagen
    • z.B. weil das in ihrer Entwicklungsgeschichte irgendwie bestraft oder Grenzenlosigkeit belohnt wurde.
    • Daher können sie beliebige Code-Wörter ggf. leichter aussprechen als „Nein“ oder „Stopp“.
  • Auch die empfangende Person nimmt ein neutrales Code-Wort evtl. als weniger ablehnend und damit emotional belastet wahr.
  • Feli: Ich möchte ein Mensch sein, zu dem jemand anderes gut Nein sagen kann.
    • Dieser Aspekt geht weit über BDSM hinaus
    • BDSM als bereichernde Gelegenheit Verhalten auszuprobieren und zu üben
      • Damit auch übend für Leben außerhalb BDSM

Rollenwechsel, Bedürfnisse und Beziehungen

  • Welche Bedürfnisse in konkreten BDSM-Interaktionen ausgelebt werden, kann sich unterscheiden
    • abhängig vom Zeitpunkt und dem jeweiligen Versorgungszustand des Bedürfnisses
    • aber auch von der Person, mit der die Interaktion geplant ist
    • und wird auch durch das Konsensgespräch geklärt.

Begrifflichkeiten: Aktiv – Passiv oder Aktiv – Aktiv?

  • Finn: Eigentlich sind beide Personen immer aktiv.
    • Es gibt kein Nicht-Verhalten
    • Das Begriffspaar spiegelt den Interaktionscharakter nicht so gut wider
    • Die Bedeutungsebene ist entscheidend: Außenwirkung vs. tatsächliche Interaktion

Sach ma, Ihr redet auch viel, oder? …

  • Während des Spiels unterschiedlich viel
    • Vorlieben ob Sprache oder Gestik verwendet wird
  • Vorab ist viel abzuklären und gemeinsam zu bestimmen
    • auch wenn Partner*innen wenig oder keine gemeinsame Erfahrungen haben.
    • Minimum ist immer das gemeinsame Konsenssystem
  • Sollte auch allgemein bei Sexualität Minimal-Standard sein.

Menschen mit besonderen Verletzlichkeiten

  • Homer: Bewusstsein für besondere Verletzlichkeiten (z.B. Traumafolgestörung, Dissoziation) ist in Grenzbereichen, die als Gewalt erlebt werden können, wichtig.
    • Bewusstsein für Trigger, die posttraumatisches Wiedererleben hervorrufen können
    • Erscheinungsformen von Dissoziation, z.B. das Personen „einfrieren“ und nicht reagieren können, sollten bekannt sein
  • Feli: BDSM-Szene unterscheidet sich nicht in der Häufigkeit psychischer Erkrankungen von Restbevölkerung
    • Wismeijer, A. & Assen, M. (2013). Psychological Characteristics of BDSM Practitioneers. The Journal of Sexual Medicine, 10, 1943–1952. https://doi.org/10.1111/jsm.12192.
    • Brown, A., Barker, E. & Qazi, R. (2019). A Systematic Scoping Review of the Prevalence, Etiological, Psychological, and Interpersonal Factors Associated with BDSM. The Journal of Sex Research, 6, Annual Review of Sex Research Special. 781-811. https://doi.org/10.1080/00224499.2019.1665619.

Gegenseitige Verantwortung und Einwilligungsfähigkeit

  • Für die Prüfung von Konsensfähigkeit sind alle Beteiligten jederzeit verantwortlich.
  • Feli schließt daher z.B. bei Partner*innen Substanzkonsum (z.B. Alkohol) aus.
  • Ungewöhnliches Verhalten des Gegenübers verlangt nach Unterbrechung und Klärung der Sicherheit
  • Nur ausdrückliches Ja heißt Ja. Ein ausbleibendes Nein ist nicht hinreichend!
    • Selbst bei einem Ja muss die Fähigkeit der anderen Person, sich für ein Nein zu entscheiden eingeschätzt werden.
    • Nur so kann ich weitgehend sicherstellen auch unabsichtlich Schaden anzurichten.

Mehr Beschäftigung mit Konsens als im Mainstream

  • Finn & Feli: Gefühl, dass in der BDSM-Szene sehr viel mehr und intensiver über Konsens und Sicherheit kommuniziert wird als in Norm-Gesellschaft.
    • Safe, Sane, Consensual (SSC)

Physische Sicherheit. Wissen, Vorbereitung, Spezial-Materiale

  • Jede Praktik benötigt gewissenhafte Vorbereitung
    • Über geeingete Materialien
    • Risiken
    • Absicherungsmaßnahmen informieren.

50 Schattierungen ungünstiger Vorbilder

  • Vorsicht bei schlechten Vorbildern!
    • Fifty Shades of Grey ist keine geeignete Vorlage für BDSM
      • FRIES nicht gegeben für Protagonistin:
      • Creepy Guy manipuliert nicht informierte Person.
      • Eigentlich Fantasy-Geschichte mit pornografischen Elementen.
        • Hinweis: Pornos sind auch keine realistische Darstellung von Sexualität.
      • Roman impliziert einen Zusammenhang zwischen Missbrauchshintergrund und BDSM-Neigung.
  • Bsp: Film über Bergsteigen evtl. auch keine gute Vorlage für tatsächliche Bergturen!

Vorbereitung, Nachbereitung, Fürsorge

  • Aftercare heißt, sich nach einer Session umeinander zu kümmern
    • z.B. die Augenhöhe wiederherstellen
    • und eingenommene Rollenverhältnisse wieder auflösen
    • mögliche Auswirkungen wie Verunsicherung, Angst, Enttäuschung etc. wahrnehmen
      • und entsprechend fürsorglich auffangen und versorgen.
    • Gerne auch ein paar Tage lang weiter im zumindest lockeren Kontakt bleiben, da Nebenwirkungen ggf. auch noch nachträglich aufkommen können.
      • auch dann besteht immer noch gegenseitige Verantwortung!
    • Der Bedarf besteht nicht nur für empfangende/submissive/unten spielende Person!
      • auch bei der dominanten Person kann das Spiel Belastungen auslösen
        • Hinweis: Auch eigene (gespielte) Handlungen können z.B. Erinnerungen triggern und z.B. Dissoziation oder posttraumatisches Wiedererleben auslösen.
      • insbesondere Ängste oder Schuldgefühle hinsichtlich der andern Person und ggf. einer gemeinsamen Beziehung können bei der dominanten Person auftreten.
  • Verantwortungsvolle BDSM-Praxis ist nicht impulsiv sondern planvoll – Precare
    • hinreichend Zeit und erforderliche Ressourcen sind absolut wichtig
    • ebenso eine Haltung der Fürsorge unabhängig der Rollenpräferenz (oben/unten, top/bottom, dom/sub)

Pausenfüller

  • Musik aus Homer S.First Light

Klischees vs Diversität

  • Viele verschiedene Erscheinungsformen – Klischees bilden meistens eher äußerliche Auffäligkeiten ab
  • Die Anwesenden sehen aus Sicht der Normbevölkerung wohl eher unauffällig aus
    • Es gibt aber auch Kleidungsfetische wie Lack&Leder oder Uniformen

Erkennungszeichen

  • z.B. der Ring der O. (siehe Episoden-Foto)
    • stammt aus einer Novelle von Heinrich von Kleist aus dem frühen 19. Jahrhundert
    • ein tradiertes Symbol obwohl die Novelle selbst auch keine optimale Darstellung von BDSM bietet.
  • Die Triskele, bzw. bestimmte Formen einer Triskele
    • gibt aber auch andere Szenen, die dieses Symbol verwenden, da es sich um eine nordische Rune handelt und mit verschiedentlicher Bedeutung aufgeladen ist.
  • Ein paar Dresscodes (Lack, Leder, Uniform), die aber mehrdeutig sein können
  • Es gibt ein mit dem O-Ring kombiniertes Halsband (Choker)
    • wurde aber auch viel rein modisch von nicht BDSM-Ausübenden getragen wurden/werden.

Sichere Wege zu BDSM

  • Informationen z.B. durch die SMJG, einen eingetragenen Jugendverein
    • für Menschen bis 27.
    • deutschlandweite Organisation
    • professionalisiert, mit div. Hilfsangeboten
      • z.B. ein Sorgentelefon
      • oder ein Coverservice um Sicherheit herzustellen bei Treffen mit bisher fremden Personen
      • Stammtische mit einer jugendgemäßen Gestaltung

Jugendschutz

  • losgelöst von sexuellen Interessen
  • explizit nicht als Kontaktbörse für sexuelle Kontakte gedacht.
  • Regeln werden von Organisator*innen überwacht
  • Vorbeugung gegen z.B. Grooming

Für ältere Interessierte

  • SMJG Alumni
  • Es gibt ein ganzes Feld an Angeboten je nach den eigenen Bedürfnissen
    • Z.B. sogenannte Fesseltreffs, die z.B. Einsteiger*innen-Workshops für Bondage, also Fesselspiele anbieten

Klischee der Ernsthaftigkeit

  • In den meisten Fällen geht es bei BDSM um ein Spiel
    • dabei kann gelacht werden
    • und viele Menschen haben miteinander Spaß dabei

Geschlechterrollen im BDSM

  • Häufige Kritik, dass BDSM geschlechterspezifische gesellschaftliche Machtverhältnisse reproduziere und damit fördere.
    • Weiblich sozialisierte Menschen übernähmen weit überwiegend eine unterwürfige, schwache Rolle, männlich sozialisierte eine herrschende.
    • Es werden tatsächlich Unterschiede in Verbindung mit dem Geschlecht beobachtet, die wissenschaftliche Datenlage scheint dazu aber schwach.
    • Unklar ob BDSM-Szene sich wirklich von Normgesellschaft unterscheidet.
    • Die behauptete aufrechterhaltende Rolle ist entsprechend eine unbelegte These.
      • Der hier berichtete reflektierte Umgang mit Beziehungen, Sexualität und Rollen ließe auch die Alternativhypothese zu, dass diese Auseinandersetzung gerade Bewusstsein erzeugt und eine Lösung aus unterbewusst festgeschriebenen Stereotypen sogar befördert
      • Eine Gegenposition weist darauf hin, dass die unten spielende Person im Rahmen des – absolut konsensuellen – BDSM im Gegenteil sehr viel mehr Macht hat als in den patriarchalen Machtverhältnissen üblich.
      • Selbstverständlich könnten beide Hypothesen jeweils für eine bestimmte Form der Praxis oder bestimmte Teile der Szene Gültigkeit besitzen.
  • Homers Hinweis auf die unterschiedlichen rollenspielerischen Kompetenzen von Menschen als möglicher relevanter Faktor
  • Hinweis, dass BDSM nicht ausschließlich auf heterosexuelle Cis-Menschen beschränkt ist.
    • Finn beobachtet subjektiv kein so klares Gefälle zu dominantem Spiel bei männlich gelesenen Aktiven.
    • Wenn also geschlechterbezogene Unterschiede beobachtbar wären, stünde noch die Frage im Raum, wie sich die Kritk zu gleich-sozialisierten Spiel-Partner*innen verhalten würde.

Switches

  • Zudem gibt es Aktive, die zwischen Aktiv und Passiv regelmäßig wechseln – Switches genannt.
    • Es gibt keine offensichtliche Häufung dieser Personen in Abhängigkeit von Geschlechtsidentität, -rolle oder sexueller Präferenz.

Trennung von Spiel- und Alltagsverhalten oder -vorlieben

  • Feli: In den meisten Fällen besteht kein Zusammenhang zwischen der bevorzugten Rolle und der Alltagspersönlichkeit der Person
    • Eine die dominante Rolle einnehmende Person kann im Alltag völlig anders im Umgang mit anderen Menschen sein, z.B. zurückhaltend, unsicher oder zärtlich.

Die Sorge vielleicht psychisch gestört zu sein

  • Abgrenzung von BDSM gegen psychische Diagnosen: Muss ich Angst haben, dass ich psychisch gestört bin, Homer?
    • Die Störungsbilder in der ICD-10 (Internationale Klassifikation anerkannter Krankheits- und Störungsbilder) stehen im Grunde stets im Widerspruch zu konsensuellem lustvollem Erleben.
    • D.h. genießen alle beteiligten Seiten das gemeinsame Spiel und sind wie o.b. einwilligungsfähig, kann natürlich nicht von einer Störung gesprochen werden.
    • In diesem Fall handelt es sich beim gemeinsamen Spiel um eine kooperative Form der Bedürfniserfüllung.
    • Psychische Störungen setzen voraus, dass in ihrem Rahmen ein bedeutender Leidensdruck entsteht.
      • Und zwar durch das gezeigte Verhalten. Damit ist nicht ein verständlicher Leidensdruck durch soziale Verurteilung oder Ausgrenzung gemeint!
      • Sekundärer Leidensdruck durch den Konflikt mit der Umwelt kann wiederum durchaus zu psychischen Störungen führen (z.B. Depression). Zögert nicht, Euch frühzeitig Hilfe bei der Bewältigung dieser Belastungen zu holen.
  • Solltet Ihr auf vermeintliche Fachleute treffen, die BDSM generell pathologisieren (also für krankhaft erklären):
    • Sucht einfach weiter.
    • Mittlerweile sollte die Mehrheit der psychologischen und medizinischen Kolleg*innen über eine differenziertere, undogmatische Haltung verfügen.
    • Solche Ansprechpartner*innen finden sich für Queere Menschen z.B. auf https://queermed-deutschland.de/.
  • Wenn Du Dir Sorgen über eigene Gewalt- oder Sexualphantasien machst, findest Du Telefonische Hilfe unter:

Du musst Dich nicht entscheiden!

  • Menschen sind neugierig und haben sich stetig verändernde Bedürfnis-Konstellationen.
    • entsprechend ist es völlig angemessen, Dinge auszuprobieren und anzutesten ….
    • … sich dagegen zu entscheiden
    • … sich für eine Zeit für etwas zu entscheiden, und nach einiger Zeit wieder für etwas anderes.
  • Etwas das Menschen heute Spaß macht, kann etwas oder viel später überhaupt nicht mehr ihr Ding sein.

Von der Notwendigkeit der Reflektion auch über Spielinhalte

  • Wiederholte Reflektion ist notwendig.
    • Weil einerseits auch mal Fehleinschätzungen geschehen können.
    • Weil sich Bedingungen wie Einstellungen, Umstände, Beziehungen usw. zwischenzeitlich ändern können.
    • Entscheidungen, Grenzen, Wünsche usw. sollten darum regelmäßig und anlassunabhängig immer wieder geprüft und ggf. korrigiert werden.
  • Feli empfiehlt den Austausch darüber nicht nur mit den Personen, mit denen eins spielt, sondern auch mit Personen außerhalb, um sich immer wieder zu kalibrieren.
    • Das ist auch wichtig, um sich der ethischen Bedeutungen bestimmten Verhaltens bewusst zu werden und es in seine Entscheidungen mit einzubeziehen.
    • Konsequenzen betreffen ggf. eben nicht nur die direkte Interaktionspartnerin.
      • Welche Auswirkungen haben meine Handlungen auf mich selbst und/oder andere?
  • Es ist wichtig seine Privilegien zu reflektierten, dass eins Situationen spielen kann, die außerhalb des Spiels für Menschen tatsächlich gefährlich oder schädlich sind, ohne diesem Risiko ausgesetzt zu sein und mit der Möglichkeit, das eigene Erleben zu reflektieren.
  • Finn: Auch hier ist es wichtig zwischen dem Spiel und den Bedürfnissen außerhalb des Spiels zu unterscheiden.

Leidensdruck aus Abweichung vom Mainstream

  • Es kann sich schwierig anfühlen von der Norm abzuweichen.
    • Ich kann mich selbst deshalb in Frage stellen,
    • aber auch die Norm.
    • Für die einzelne Person und für den jeweiligen Moment kann es aber auch in Ordnung sein, sich anzupassen und nicht in offene Konfrontation mit der Normgesellschaft zu geben.
  • Sich mit anderen zu organisieren und austauschen zu können ist wie in so vielen Bereichen eine gute Chance, sich zu entlasten und Unterstützung zu sichern.

Tonquellen:

Post Skriptum: Euer Feedback!

  • Mastodon-Account der Plapperbu:de https://social.tchncs.de/@Plapperbude \
  • Matrix-Community der Plapperbu:de https://matrix.to/#/+plapperbude:ismus.net
    • Im Raum #bdsm:ismus.net könnt Ihr mit uns oder miteinander diskutieren und Eure Fragen loswerden.
  • Wenn Euch diese Folge oder gar die Plapperbude insgesamt gefallen sollten und ihr sie für empfehlenswert haltet:
    • Wir sind nicht und werden nicht bei Spotify oder iTunes gelistet sein. Also keine Bewertungen oder Likes dort möglich 🙂
    • Wir machen keine Werbung außer unsere Mastodon/Fediverse-Postings.
    • Ihr könnt uns allerdings bei fyyd.de favorisieren.
    • Ansonsten sagt uns einfach gern an Menschen weiter, von denen Ihr denkt, dass sie sich für unseren Podcast / diese Folge interessieren könnten – egal ob in SocialMedia, Messenger-Gruppen oder via Mund-zu-Mund-Empfehlung.
      • Gerade wenn Ihr damit größere Gruppen erreicht, freuen wir uns über einen kurzen Hinweis darüber. Nur damit wir verstehen, woher plötzlich die ganzen Downloads kommen 😉

PLBD014 Polyamorie

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Mitwirkende

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Homer S. (er)
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Mischa (ser)
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Lea (sie/ - )
avatar
Feli (sie)

Shownotes

Vorwort


Herzlich Willkommen zur 14. Ausgabe der Plapperbude. In dieser Episode unterhalte ich mich mit Feli, Lea und Mischa über Polyamorie, also die Freiheit, zumindest mehr als 1 Person gleichzeitig lieben zu dürfen. Die wenigen Hinweise auf lokale Angebote zu diesem Thema im Gespräch und in den ShowNotes beziehen sich auf die Region Münster.

Anmerkungen und Fragen zur Episode könnt Ihr wie immer direkt auf plapperbu.de, unter dem Veröffentlichungs-Toot auf Mastodon oder vorzüglicherweise in der Plapperbude-Matrix-Community (diesmal: #polyfolge:ismus.net) loswerden.

Vorstellung und Einleitung

Was ist Polyamorie?

  • Unterschiedliche Ideen und Konzept unter dem Begriff versammelt
  • Lea:
    • Offenheit und Konsensualität in Liebesbeziehungen mit mehreren Menschen
    • Abgrenzung zu Offene Beziehungen
  • Mischa:
    • Vielfalt gelebter polyamorer Beziehungskonzepte
      • hierarchische vs. non-hierarchische Polyamorie-Modelle
  • Feli:
    • Keine allgemeingültige Definition, individuelle Gestaltung/Aushandlung
    • Ergänzungen zur Abgrenzung/Differenzierung hierarchischer vs. non-hierarchischer Polyamorie-Gestaltungen:
      • Primary vs. Nebenpersonen
      • bedürfnisgetriebene Beziehungsgestaltung

Was ist Polyamorie nicht?

  • Mischa:
    • Abgrenzung zu toxischen Verhaltensweisen in jedweden Beziehungsformen
    • Vieles, was ich nicht machen würde, aber dennoch Polyamorie ist:
      • Veto-Konzept (Primäre Beziehungsperson kann andere Beziehungspersonen ausschließen)
      • Beziehung öffnen, um einseitig Verlust der Partnerschaft zu verhindern
  • Feli:
    • Vorurteil mangelnden Bekenntnisses zu Personen bei Polyamorie
  • Lea:
    • Vorausgesetzte Selbstbeschränkung, mit wem ich dauerhaft was erleben will
    • Wer keine oder nur eine Parter*in hat, sei nicht polyamor.
    • Möglichst viele Menschen in möglichster kurzer Zeit daten
      • Mischa: Würde mich völlig überfordern.

Hattet Ihr Vorerfahrungen mit Monoamorie?

  • Lea:
    • Ja, und schließlich über Text zu Polyamorie gestolpert und dafür begeistert
  • Mischa:
    • 6 Jahre mono, jetzt seit 4 Jahren polyamor
    • Durch neue Beziehungsperson mit Polyamorie in Berührung gekommen, dann viel gelesen dazu
      • Finde Sich-Informieren vor praktischem Einstieg wichtig
  • Feli:
    • Zweifel nachdem idealisierte Mono-Beziehungen im Umfeld in Krise gerieten:
      • Dann schließlich eigene Beziehung konsensuell mit Partner geöffnet
      • Nicht Menschen sondern Beziehungsmodell in Zweifel gezogen
    • Ebenfalls viel mit Literatur beschäftigt
    • Auch befreundetes Paar war Modell im Umfeld

Wie kommt 1 eigentlich zu Polyamorie?

  • Feli:
    • Häufig Öffnung monoamorer Partnerschaft, wenn sie nicht mehr gut läuft.
      • Ungünstige Prognose, weil das oft Zeichen für bereits gestörte Paarkommunikation
  • Mischa:
    • Gestörte Systeme werden nicht notwendigerweise durch zusätzliches Element stabilisiert
      • z.B. Kinder kriegen als Beziehungs-Quickfix
      • ggf. unfair, Dritte in labiles System einzubringen
  • Lea:
    • Polyamorie nur aus eigenem Antrieb, nicht für Partner*in
    • Mischa:
      • Beziehungspersonen können sich auch innerhalb polyamorer Modelle auf eine Beziehungsperson beschränken.
    • Feli:
      • Radikale Ehrlichkeit zu mir selbst: Ich habe nicht immer nur einen einzigen Menschen toll gefunden.
        • Habe das für meine Mono-Beziehung geopfert, weil gar keine Alternative denkbar war.
  • Eine Wahl zu haben setzt Wissen um die Wahl voraus
  • Wie und wann erfahre ich überhaupt von Polyamorie!
    • Mischa:
      • So dankbar für das Internet!!!
        • Polyamor, queer, trans und vegan …
          • Leichter Zugang zu Infos zu vom Mainstream abweichenden Lebens- und Verhaltensweisen.

Umgang Anderer mit Eurem Polyamorsein

  • Homer:
    • Beziehungsmodell zunächst meist von Erziehungspersonen übernommen
      • i.d.R. heteronormativ und (offiziell) exklusiv
  • Mischa:
    • Keine Ablehnung, aber gelegentlich pragmatische Ignoranz durch Familie
  • Lea:
    • Im Freundeskreis überwiegend polyamore Beziehungen
    • Kernfamilie akzeptierend, keine Berührungsängste, Restverwandschaft schweigt
  • Feli:
    • Je nach Perspektive denken viele Menschen meinen Beziehungen einfach mono.
    • Offenere Ablehnung einzeln in Dating-Apps
  • Differenzierte Entscheidungen, wo und wie Polyamorie offen gezeigt wird

Typische Vorurteile

  • Polyamorie werde vorwiegend von Cis-Männern benutzt, um Emotions- und Care-Arbeit zu vermeiden
    • Mischa:
      • Gibt es sicherlich,
      • liegt aber nicht an Polyamorie sondern an Reproduktion patriarchaler Beziehungstrukturen
      • gilt also so auch für monoamore Beziehungen.
  • Menschen, die polyamor leben, könnten sich nicht richtig einlassen auf ihre Partner\*innen und seien schlicht nicht beziehungsfähig.
  • Beim Scheitern von monoamoren Beziehungen wird Scheitern stets auf die Person attribuiert, bei polyamoren gewöhnlich auf das Beziehungsmodell.
  • Polyamorie verfluche zu ständiger Eifersucht, bzw. man dürfe überhaupt nicht eifersüchtig sein, um polyamor lebe zu können.
  • „Das ist ja nur ne Phase“, „bis du erstmal die*den Richtige*n findest!“
  • Andere zu lieben bedeute, dass einem die Partner*innen nicht genügten.
  • „Ihr habt doch alle Geschlechtskrankheiten!“
    • Dahinter steht das Stereotyp, es gehe bei Polyamorie eigentlich nur um mehr Sex.

Labeling

Andere Polyamore finden

  • Offen an Menschen ran gehen und nichts voraussetzen. Auf jede Person neu offen einlassen.
  • Im freundlichen Kontakt vorfühlen.
  • Mischa:
    • Polyamorsein fließt als Info beiläufig in Gespräche frühzeitig ein, weil meine Partner\*innen einfach so selbstverständlicher Teil meines Lebens sind.
  • OKCupid https://de.wikipedia.org/wiki/OkCupid
  • Aufklären sobald sich Kontakt intensiver anfühlt.
  • Stadt-Land-Gefälle
    • In ländlicheren Umgebungen oft weniger offenes Umfeld, weniger Gleichgesinnte
    • Auch durch Corona mittlerweile mehr Online-Angebote!

Ist Polyamorsein anstrengender?

  • Kann. (Zeit-)Ressourcenmangel im Zweifel ein verständlicher Grund mono zu leben …
  • Problem der Vermeidung von Auseinandersetzung mit Beziehungen sowohl bei Mono– als auch Polyamoren
  • Entlastung von Beziehungen durch Polyamorie? Mehr Verteilung von Druck.
    • Mischa:
      • Ja, aber Ressourcen sind einfach begrenzt. Mehr Partner\*innen heißt ggf. auch mehr Ressourcenkonflikt.
      • Mehr bzw. komplexere gegenseitige Einflüsse in polyamoren Beziehungssysstemen.
      • Oft mehr Anspruch an bewusste Auseinandersetzung mit Beziehungen –> Mehr Zeitinvestition erforderlich.
      • Widerspricht auch dem Vorurteil, dass es in Polyamorie nur um Sex gehe – dafür bleibt gar nicht genug Zeit 🙂
    • Lea:
      • In weniger komplexen, monoamoren Beziehungen mehr Risiko, sich in bequemes Vermeiden wichtiger Themen zu flüchten
        • Problemstellungen stauen sich eher auf. Risiko stärkerer verzögerter Eskalation.
        • In Polyamorbeziehungen so Chance, früher auf wichtige Themen zu stoßen
  • Keines der beiden Modelle (mono- vs. polyamor) ist grundsätzlich überlegen.
    • Aber oftmals ist nur das Mono-Modell wirklich bekannt, wodurch keine bewusste Wahl auf Basis der eigenen Bedürfnisse getroffen werden kann.
    • Einvernehmlichkeit/Konsensualität ist entscheidend
      • Unser*e Hörer*in Luu kommentiert Mischas Gleichsetzung konsensueller Non-Monogamy und konsensueller Polyamorie kritisch und sieht letztgenannte als Unterkategorie der ersten .
    • Entscheidung für Monoamorie ist nicht automatisch anti-emanzipatorisch!

Polytreff Münster

  • Kontakt viahttps://www.polyamorie-muenster.de/ durch Anschreiben der Mailingliste
    • Reale Treffen als auch Telegram-Gruppe, ggw. dank Covid19 natürlich online
    • Bemühung um sicherere Umgebung für Austausch
      • Dennoch sehr heterogen und damit auch mit allen gesellschaftlichen Konfliktbereichen gegenüber verletzlich
    • In Telegram-Gruppe über 100 Personen, Online-Treffs schwanken derzeit zwischen 8 und 12 Personen, Präsenz-Treffen früher mit bis zu 35 Menschen
  • „informelle Selbsthilfegruppe“, Diskussions- und Austauschrunde
    • Es ist möglich und erwünscht, eigene Themen und Fragestellung mit in die Treffen zu bringen.
    • Sehr breite thematische Palette – von sehr konkret bis philosophisch
  • Kontakt und Austausch mit Menschen mit realen Erfahrungen mit Polyamorie hilfreich
    • Realitätsprüfung
    • Anerkennung der Diversität polyamorer Realitäten
    • Auch offen für Einsteiger*innen: Ihr müsst (noch) nicht polyamor leben, um Fragen zu stellen.
  • Es kann hilfreich sein, sich außerhalb der Beziehungen in vertraulicher und sicherer Umgebung reflektieren zu können
    • Externe Reflektionsgruppe z.B. im Internet auch eine Option, um vertraulicher reden zu können
    • Vielleicht nicht notwendig, aber manchmal ergibt sich der Bedarf über die Zeit hinweg

Gründe polyamor zu leben

  • Beziehung an authentischen Bedürfnissen orientieren
  • Mehr Vielfalt und Flexibilität in Beziehungen erleben können
  • Auch Bedürfnisse der Partner*innen nicht unnötig einschränken
  • Entlastung von Druck, Bedürfnisse des*r Anderen erfüllen zu müssen
    • Besser möglich, Nein zu sagen
  • Bedürfniswidersprüche schließen Beziehung nicht automatisch aus
    • z.B. bei nicht-gemeinsamem Kinderwunsch
    • oder Umfang und Spezifitäten sexueller Bedürfnisse.
  • Hedonismus:
    • Die Freude daran „schönen“/tollen Menschen zusammen sein zu dürfen
    • Optional auch intime körperliche Erfahrungen mit mehr als 1 Person
  • Andere mit Veganismus anfixen! 😀
  • Mehr und interessante Personen durch Partner*innen kennenlernen

Die Anderen im polyamoren System

  • Metamour – Die anderen Partner*innen meiner Beziehungsperson https://www.polydictionary.org/metamour/
  • Partner*innen 1., 2., 3. Grades
  • Vergleich mit Umgang mit gegengeschlechtlichen Freundschaften in Mono-Beziehungen

Dos and Don’ts

  • Do:
    • Sei bereit für sehr viel Kommunikation! Distanziere Dich von Vorannahmen über die Bedürfnisse und Grenzen der Anderen, frage und handle explizit aus.
    • Beschäftigt Euch damit, was Ihr braucht, um Euch sicher zu fühlen.
      • Auch polyamore Menschen können eifersüchtig sein – auch dieses Gefühl ist valide, setz Dich damit auseinander.
    • Übernimm Verantwortung für Deine Entscheidungen: Own your shit!
    • Sich aktiv mit den eigenen Gefühlen auseinandersetzen, kein Wegdrücken vermeintlich negativer Gefühle,
      • selbst wenn sie im Kontrast zu Vereinbarungen in der Beziehung stehen.
    • Über Sex reden! Offen, konkret und aktuell.
      • Auch Verhütung und Schutz vor STI (Sexuell übertragbare Infektionskrankheiten)
      • Consent! Consent! Consent! Einvernehmlichkeit ist ultra-wichtig und immer wieder neu herzustellen/zu prüfen!
      • Je mehr Beziehungspersonen, desto mehr Kommunikationsbedarf.
    • Aktiv auf Ressourcenmanagement achten
      • Bei hoher Begeisterungsfähigkeit für Menschen droht, sich zu verzetteln,
      • andere zu vernachlässigen oder gar
      • sich selbst zu vernachlässigen.
      • Belastet letztlich auch die Beziehungen
    • Reflektiere gesellschaftliche Machtverhältnisse und reproduziere sie nicht einfach.
      • In polyamorer Szene sind die diversen Diskriminierungsvarianten ebenso vorhanden wie anderswo auch.
      • Im Zweifel marginalisierst Du bisher nicht weniger sondern einfach nur anders.
      • Buchtipp: Love’s not color blind – Kevin A. Patterson
  • Don’t:
  • Polyamorie ist kein Freifahrtsschein für Rücksichtslosigkeit!
    • Denk nicht, dass Polyamorie das bessere Beziehungskonzept sei!
      • Vielleicht für Dich, aber deswegen eben nicht für alle

Kinder-Carearbeit

  • Paar- oder Alleinerziehenden-Modelle nicht an moderne Ausbeutungsrealitäten angepasst.
  • Polyamorie-Modelle bieten evtl. auch Antworten auf veränderte Realitäten in der Nachwuchs-Versorgung.
    • Teilhabe an Versorgung und Leben mit Kindern, ohne chronische Selbstüberforderung oder Selbstaufgabe vorauszusetzen
    • Auch für Menschen ohne „Gebärbereitschaft“
  • Tankel = Tante+Onkel (bei Non-binaries/Transpersonen)

Eifersucht

  • Spielt auch bei polyamor Lebenden mitunter eine Rolle, kann sich aber in der Offenheit verändern
    • Exklusivität macht andere Bindungen zu grundsätzlicherer Bedrohung meiner Bedürfnisversorgung.
  • In Polyamorie korrigierende Erfahrung möglich, dass durch Teilen und Andere nicht grundsätzlich Verlust droht
    • Ermöglicht Reduktion übersteigerter Ängste und erlaubt Entspannung in Beziehungen
  • Eifersucht kein Zeichen für „Polyamorie-Unfähigkeit“!
    • Es muss nicht immer gleich Compersion sein – neutrale Akzeptanz ggf. völlig hinreichender Zustand.
    • Ich kann meiner Beziehungsperson andere Partner*innen gönnen und eifersüchtig sein!
  • Monobeziehungen bieten ggf. kurz- bis mittelfristig Sicherheitsgefühl – das aber langfristig trügen kann.
  • Differenzierung von Neid, Missgunst, Verlustangst, Verunsicherung bei Eifersucht
    • Bedürfnisse hinter den Gefühlen identifizieren und alternative Quellen bewusst machen
  • Besondere Wertschätzung von Zuwendung durch Partner*innen, wenn sie nicht auf Alternativlosigkeit beruht
  • Normative Besitzansprüche häufig in mononormativen Konzepten (siehe Ehe) gefördert
  • Verantwortung für eigene Gefühle übernehmen und sich aktiv damit auseinanderzusetzen
    • Aber auch: Trotzdem verantwortlich und mitfühlend den Menschen um Dich herum gegenüber verhalten.

Weitere Empfehlungen meiner Gäst*innen

Abschied und Dank

Feedback-Hinweis

Mastodon-Account der Plapperbu:de https://social.tchncs.de/@Plapperbude
Matrix-Community der Plapperbu:de https://matrix.to/#/+plapperbude:ismus.net

Dort könnt Ihr im Raum #polyfolge:ismus.net fragen und diskutieren. Meine Gäst*innen haben sich bereit erklärt, dort auf Euch und Eure Beiträge einzugehen.

Tonquellen

Intro und Outro:

PLBD013 2020 – Eine Bilanz

Bisher 81 mal heruntergeladen.


Mitwirkende

avatar
Homer S. (er)

Shownotes

Es folgt ein Jahresrück- und -ausblick auf 2020 bzw. 21. Er spiegelt meine persönlichen Erfahrungen und Gedanken wider und ist weder vollständig noch allgemeingültig. Im Übrigen habe ich an einigen Stellen die Verkürzung „Thera“ anstelle des Begriffs „Psychotherapeut*innen“ verwendet. Das sei vorweg angemerkt, bevor es zu Verwirrung kommt.

Ein Jahr neigt sich dem Ende zu. Ein Jahr, dass sich aus verschiedenen Gründen besonders in das kollektive Langzeit-Gedächtnis einbrennen wird. Während die Welt und ihr vorherrschendes marktradikales Wirtschaftssystem unter dem SarsCov2-Virus langsam aber sicher ins Schlingern geriet, beschäftigten viele von uns noch andere wichtige Themen wie Rassismus und Polizeigewalt – in die breite Aufmerksamkeit geraten durch den Mord an George Floyd und die nachfolgenden, in den USA auch militanten Proteste. In Deutschland zeigte sich am 22. Februar 2020 erneut die mörderische Realität des Terrors weißer Männer, als ein sich durch rassistische und antifeministische Propaganda legitimiert fühlender Täter seine 10 arglosen Opfer kaltblütig tötete:

  • Gökhan Gültekin
  • Ferhat Ünvar
  • Hamza Kurtović
  • Mercedes Kierpacz
  • Sedat Gürbüz
  • Kaloyan Velkov
  • Vili Viorel Păun
  • Fatih Saraçoğlu
  • Said Nessar El Hashemi
  • Gabriele Rathjen

Der lange vorbereitete Versuch, der Ermordeten ein halbes Jahr später mit einer Großversammlung in Hanau zu erinnern, wurde im Namen der covid-bezogenen Hygienemaßnahmen unterbunden. Am 01. August konnten sich in Berlin noch 20.000 rechtsoffene Verschwörungsgläubige unter großflächiger Ignoranz von Hygieneauflagen versammmeln. Am 29. August setzten die Gerichte in Berlin eine weitere solche Veranstaltung für über 20.000 Tatsachen-Leugner*innen durch. Zahlreiche weitere sollten in ganz Deutschland folgen. Im Fahrtwind des Virus gewinnen Rassismus, Antisemitismus und diverse esotherische Heils- und Welterklärungslehren an öffentlicher Sichtbarkeit. Während solidarisch orientierte Menschen aus Rücksicht auf das Leben der von Covid19 besonders Bedrohten ihre öffentlichen Aktivitäten zurückfahren oder einstellen, nutzt die krude Melange aus Veranstaltungstechniker*innen, Heilpraktiker*innen, Reichsbürger*innen, Neurechten, offenen Neonazis und anderen analytisch Unbegabten die Gunst der Stunde und erlangt dank ihrer bürgerlichen Privilegien enorme öffentliche Aufmerksamkeit. Häufiger als in vermutlich allen Jahren zuvor, wurde vor gesellschaftlicher Spaltung und einer Polarisierung innerhalb der Bevölkerung gewarnt – als handele es sich um zwei gleichwertige Alternativen, zwischen denen einfach ein Kompromiss zu finden sei.

Währenddessen wurden und werden durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ganze Lebensentwürfe in Frage gestellt oder bereits zerstört. Die Krise legt die systematischen und strukturellen Defizite auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene schonungslos offen. Gleichzeitig gingen wohl selten so viele relevante Themen zwischen den eben genannten unter wie 2020. Alles wirkt letztlich neben dem kollektiven Kontrollverlust, den die Covid19-Pandemie bedeutet, so nachgeordnet, so aufschiebbar. Mitunter schleicht sich eine gewisse aktivistische Mattigkeit ein, da die sozialen Vorzüge des Aktivismus auf der Strecke bleiben: Mit einem Mindestabstand von 2 Metern lässt sich kein starkes Gemeinschaftsgefühl erzeugen, stationären Kundgebungen mangelt es schon immer an motivierender Dynamik und die bindungspflegende Umarmung durch Mitaktivist*innen fällt ebenfalls weg. Es bleiben der teils beträchtliche Arbeitsaufwand und die frustrierende Teilnahmslosigkeit der breiten Masse.

Wie immer, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit irgendwie gebunden ist, sei es durch die sommerliche Urlaubszeit, Katastrophen oder internationale Sportveranstaltungen, nutzen zielstrebige Menschen die Gelegenheit, um ihre Interessen besonders eifrig am Rest vorbei zu vertreten. In der Regel bedeutet das eine Verschiebung der Verhältnisse zugunsten einer kleineren Gruppe Privilegierter und zum Nachteil weniger gut lobbyierter Gesellschaftsgruppen. Da verschwinden einige Gesetzesentwürfe wieder in Schubladen, andere werden obwohl wiederholt im demokratischen Prozess oder höchstrichterlich verworfen wieder hervorgekramt. Anderes läuft stumpf und automatisiert weiter und brennt still so vor sich hin. Also … natürlich brannte Moria nicht still ab, aber durch unsere doppelverglasten Fenster im Zentrum Europas dringen die Geräusche von der Außengrenze meist dennoch nicht zu uns durch.

Nach einem 3/4 Jahr pandemischem Ausnahmezustand – für die eine mehr, für den anderen weniger – kämpfen wir weiter um eine Rückkehr in eine ja bereits vorher kaum befriedigende Normalität, um Kontrolle, um die Hoffnung, wenigstens etwas Einfluss auf die offensichtlichen Misstände in der uns umgebenden Welt nehmen zu können.

Nach einem 3/4 Jahr, das für mich weder Stillstand, noch Freizeit, noch wirklich Entschleunigung bedeutete, will ich außerdem einen kleinen Einblick liefern, was das Jahr für mich als Psychotherapeut so bereit gehalten hat.

Auch für die Versorger*innen im Gesundheitssystem kam das Ausmaß der Pandemie trotz aller Vorbildung und Richtlinien-Papiere überraschend. Zu sicher glaubten wir uns alle im warmen Schoß des globalen Nordens, haben den Gedanken an vorangehende Epidemien zur Seite geschoben und uns auf den gewohnten Versorgungsstandards ausgeruht. Kaum eine ärztliche oder therapeutische Praxis hatte die eigentlich längst vorgeschriebenen Materialien für den Notfall auf Lager. Wer hat in seinen Räumlichkeiten schon Platz für Lagerhaltung? Wer opfert für ein Ereignis, das angeblich nur alle 100 Jahre auftritt, auf Dauer einen Raum? Wer kauft all die verschiedenen Materialien ein, nur um sie alle paar Monate oder Jahre ungenutzt wieder in die Tonne kloppen zu müssen? Wer rechnete damit, dass Krisensituationen über Kliniken und Versorgunszentren hinaus auch die einzelne Praxis betreffen würde? Niemand. Oder zumindest die wenigsten. Und dann passierte das Vorhersagbare: Bei einer globalen Krise benötigen plötzlich alle gleichzeitig alles – und zwar sofort! Eine Betriebswirtschaft, die Lagerhaltung längst für unwirtschaftlich erklärt hat, setzt auf Warenfluss, der mäßigen Schwankungen folgen kann, plötzlichen und massiven Bedarfsänderungen aber lange nicht mehr gewachsen ist. So wie die Massen plötzlich vor leeren Regalen bei zunächst Klopapier, Desinfektionsmitteln und Nudeln standen, waren auch Einrichtungen der elementaren Gesundheitsversorgung mit einer Mangelsituation lange vergessenen Ausmaßes ausgesetzt. Alles in allem müssen wir uns eingestehen: Wir waren nicht vorbereitet. Anders als bis in die 90er-Jahre, als es überall flächendeckende Katastrophenpläne vor dem Hintergrund des Kalten Krieges gab, haben sich nach dessen Ende andere Prämissen in den Vorherrschafts-Gesellschaften herausgebildet. Die Life-Style-Variante des „Im Hier und Jetzt“-Leben legt nichts an die Seite, sie soll im Moment genießen, und das heißt vor allem, nicht über den Augenblick hinauszudenken. Nicht zu sparen, sondern „den Markt ankurbeln“, investieren, konsumieren. Und das fällt uns gerade auf verschiedensten Ebenen auf die Füße.

So sehr ich das gern anderen Menschen vorwerfe, so sehr muss ich mir Vieles davon auch selbst anziehen: Hätte ich prognostiziert, dass in den nächsten Jahren eine Pandemie die Weltgesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert und die Zerbrechlichkeit der herrschenden Ordnung aufzeigt? Auf keinen Fall. Ich rechnete mit den Auswirkungen der Klimakatastrophe, Krisen durch Massenfluchtbewegungen, Kriege, die auch die nördlichen Zentren der Welt nicht mehr unberührt lassen. Einen Virus hatte ich nicht auf dem Papier – so naiv das von heute aus betrachtet auch gewesen sein mag. War ich als Psychotherapeut auf erhöhte Hygienestandards vorbereitet, obwohl alle niedergelassenen Psychotherapeut*innen das natürlich den Vorgaben gemäß hätten sein müssen? Natürlich nicht. Plötzlich musste ich mir mit meinen Kolleg*innen Gedanken machen, wie wir den obligatorischen Begrüßungshandschlag ersetzten, wo wir Hygienespender herkriegten und anbrachten. Wie wir unseren Patient*innen welche Hygieneregeln für den Praxisbesuch mitteilt en. Und schließlich auch, ob, wie und in welchen Fällen wir Psychotherapie auch online als Video-Sprechstunde durchführen könnten, um so viele persönliche Kontakte zu vermeiden wie möglich.

Das mit dem HomeOffice für Theras gestaltet sich übrigens schwierig. Freundlicherweise hatte die Kassenärztliche Vereinigung bzw. vermutlich der Gemeinsame Bundesausschauss (G-BA) kurzfristig die Abrechnung und Durchführung von Online-Sprechstunden erleichtert, d.h. die Begrenzung auf 20% der Umsätze aufgehoben (vorerst bis Ende März 2021) und Fördertöpfe zur Anschubfinanzierung von erforderlichem Equipment hingestellt. So konnte sich unsere Praxis z.B. ordentliche Laptops, Headsets und Kameras zu großen Teilen finanzieren lassen. Im Grunde waren die Bedingungen zur Umstelllung auf Online-Therapie und ein StayAtHome eigenltich ganz günstig. Und doch waren da einige Faktoren, die dazu führten, dass es doch nicht dauerhaft und flächendeckend zu einer Umstellung kam.

Zum Einen mussten bekanntlich auch im IT-Bereich diverse Lieferengpässe ausgestanden werden. Zum Anderen mussten erst einmal den Richtlinien entsprechende, von Laien bewältigbare und hinreichend stabile Angebote zur Verfügung stehen. Da die verwendeten Kommunikationsdienste, sich offiziell zertifizieren lassen müssen, und wir nicht zertifizierte Möglichkeiten schlicht nicht einsetzen dürfen, fielen selbstbetriebene Kommunikationsserver wie jitsi heraus. Auch wenn dies in Einzelfällen sicherlich die Datensparsamste Lösung bedeutet hätte. Gleichzeitig bedeutete diese Regelung aber hoffentlich auch das Aus für die unsägliche inoffizielle Praxis, mit Patient*innen via WhatsApp oder Skype zu kommunizieren.

Ein weiteres Problem stellte die bekannte mangelhafte Versorgung mit schnellen Internet-Verbindungen dar. Eine Gemeinschaftspraxis mit nur zwei oder drei Kolleg*innen hatte mit den auf dem Land noch durchaus üblichen 10MBit Download und 1 MBit Upload erhebliche Schwierigkeiten gleichzeitig stabile Videogespräche aufzubauen, geschweige denn über 50min hinweg störungsfrei führen zu können. Dieser Flaschenhals bestand oftmals nicht nur auf Seiten der Praxen sondern natürlich auch auf der Seite der Patient*innen. Gerade in den Gruppen mit geringem Einkommen bleibt Internetnutzung oft auf den Smartphone-Tarif und eben das Smartphone beschränkt.

Was ein Stay-At-Home für Theras ebenfalls erschwerte: Wir sind quasi verpflichtet, für unsere Arbeit das Haus zu verlassen. Denn offiziell ist es weiterhin nicht statthaft, die Gespräche von unserem Zuhause aus zu führen. Wir müssen dazu in den Praxen sitzen. Nur die Patient*innen sollen zuhause bleiben.

Neben solchen Konsequenzen für unseren Praxisalltag wirkt sich die Pandemie auf die in diesem Beruf möglicherweise in besonderem Maß wichtige Psychohygiene aus. Da Theras sich in ihrem Berufsalltag regelhaft mit Themen und Inhalten beschäftigen, die der Rest gerne vermeidet, ist vielleicht nachvollziehbar, dass es unserer Gesundheit mittelfristig nicht zuträglich wäre, wenn therapeutische Gespräche 40h unserer Arbeitswoche ausmachten und wir zwischendurch nicht auch mal etwas Abstand von unserer Arbeit bekommen würden. 2020 hielt leider auch dahingehend einige wenig erfreuliche Veränderungen bereit. Wie niedergelassene Ärzt*innen sind auch wir Theras verpflichtet uns berufsbegleitend fachlich fortzubilden. Konkret müssen wir innerhalb von 5 Jahren eine gewissen Menge an Fortbildungspunkten sammeln, die über von den Kammern akkreditierte Veranstaltungen erworben werden können. Für mich persönlich waren Kongresse und Workshop-Tagungen immer gewisse Highlights. Denn ein großer Teil der Psychotherapeut*innen arbeitet wie ich in Einzel- oder kleinen Gemeinschaftspraxen. Die Großveranstaltungen boten somit nicht nur die Möglichkeit, unsere Pflicht der Fortbildung zu erfüllen, sondern schlicht auch mal wieder mit Fachkolleg*innen in sozialen Austausch zu kommen, alte Bekannte und Freund*innen wieder zu treffen und das ganze ggf. mit dem touristischen Besuch der Attraktionen einer Metropole zu verbinden. Sowohl 2020 als auch prospektiv 2021 fallen diese Abwechslungen und Auszeiten weg. Die teilweise in Vorbereitung befindlichen Online-Substitute werden nur das sein können: Ein schwacher Ersatz. Neben diesen Fortbildungsbezogenen Aktivitäten pflegen eine Reihe meiner Kolleg*innen auch eine Leidenschaft für das Reisen, sicher auch weil durch diese Orts- und Kulturkreis-Wechsel besonderes effektiv Abstand vom Berufsalltag zu gewinnen ist. Auch damit war es – spätestens Ende Herbst – natürlich vorbei. Gleichzeitig nahm der Bedarf unserer Patient*innen – ich komme später noch auf dieses Thema zurück – natürlich nicht etwa ab. Ich habe also begründete Zweifel daran, dass die Mehrheit der Kolleg*innen dieses Jahr weniger gearbeitet haben wird als in den Vorjahren. Für mich selbst kann ich jedenfalls sagen, dass die reinen Gesprächsleistungen über das Jahr betrachtet auf einem ähnlich hohen Niveau geblieben sind, während gleichzeitig eine Reihe von Aufgaben im administrativen Bereich hinzu gekommen sind. Heißt unterm Strich: Mehr Arbeitsstunden bei gleichzeitigem Ausfall von Ausgleichsaktivitäten im Freizeitbereich.

Ich sprach es bereits an: Im Zuge von Covid19 kam es nur temporär zu einem Nachlassen der akuten Nachfrage an Psychotherapie. Zu Beginn der Pandemie und der verbundenen Kontaktbeschränkungen gab es eine wenige Wochen andauernde Reduktion bzw. fielen etwas mehr Sitzungen spontan aus als sonst. Mitte des Jahres befanden wir uns aber längst wieder auf dem gewohnten Nachfrage-Niveau. Ab Oktober konnte ich mich vor Neuanfragen nach Therapieplätzen kaum retten, sodass ich schlussendlich einen kompletten Neuaufnahme-Stopp bis mindestens Jahreswechsel verkündete, um nicht noch mehr Zeit an die persönliche Bearbeitung dieser Anfragen zu verlieren. Im selben Zeitraum forderte die Terminservicestelle der KV bei uns wiederholt schriftlich, wir sollten doch bitte endlich mehr Termine zur Verfügung stellen, damit sie uns die vielen Menschen zur Aufnahme oder Sprechstunde schicken könnten, die direkt bei Ihnen ihren gesetzlichen Anspruch auf eine zeitnahe fachärztliche Behandlung einforderten. Mir ist im Übrigen auch keine Kolleg*in persönlich bekannt, die die von der KV angebotene Kompensationszahlung in Anspruch nehmen musste, um Verluste gegenüber den Vorjahren auszugleichen. Nichts spricht also für ein Nachlassen des Therapiebedarfs, Vieles für einen erheblichen Zuwachs. Das entspricht durchaus den fachlichen Vorhersagen. In der Juni-Ausgabe des Psychotherapeutischen Outlets des Deutschen Ärzteblatts PP versuchten die Autor*innen unter der Überschrift „Psychische Störungen werden zunehmen“ Studien und Erfahrungen aus vorherigen Epidemien zusammenzufassen und Prognosen für die Entwicklung psychischer Erkrankungen im Zuge der Covid19-Pandemie abzuleiten. Zusammengefasst prognostizierten sie einerseits eine bedeutende Zunahme der Neuerkrankungen an Angststörungen, affektiven Störungen und Traumafolgestörungen durch die Erkrankung selbst, das Miterleben von Erkrankungsfolgen und die begleitenden sozialen Einschränkungen. Obwohl sie die Pandemie zum Jahresende als unter Kontrolle angenommen hatten, prognostizierten sie diesen covid19-bezogenen Zuwachs über die nächsten vier Jahre hinweg. Zusätzlich verweisen sie auf die zu erwartende Verschlechterung bereits bestehender Erkrankungen. Die allgemeinen Beschränkungen betreffen einerseits den Zugang zu therapeutischen Angeboten, andererseits aber auch die Optionen, therapeutisch erforderliche Verhaltensveränderungen umzusetzen. Konfrontationstrainings, Aufbau angenehmer Aktivitäten und ausgewogener Tagesstruktur, körperliche Ertüchtigung, soziale Unterstützungs-Quellen. All diese wichtigen Komponenten moderner Psychotherapie werden erheblich beschränkt, sodass sich therapeutisch günstige Entwicklungen wieder ins Gegenteil umkehren können. Und anstatt sich weiter mit den laufenden therapeutischen Prozessen befassen zu können, benötigen die Patient*innen oftmals zunächst Unterstützung bei der Anpassung an die neue Lebenssituation, neu enstehenden oder verschärfenden Krisen und Belastungen. Wie gesagt: Die Autor*innen nahmen eine Kontrolle der Pandemie zum Jahresende an! In Wirklichkeit steht es in Europa schlechter denn je. Wir können nur mutmaßen wie sich dieser noch ungünstigere Verlauf auf den Behandlungsbedarf der Bevölkerung und der Hochrisikogruppen im Speziellen auswirken wird.

Wie eingangs bereits angesprochen leben wir in einem Gesellschaftssystem, das bei der solidarischen Grundversorgung der Gesamtheit stets Spitz auf Knopf plant. Wer in prä-Covid19-Zeiten versucht hat, einen Platz bei ambulanten Psychotherapeut*innen oder einer stationären psychotherapeutischen Behandlung zu bekommen, hat die bisherigen Mängel mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits kennengelernt. Die seit 2016 bei den Kassenärztlichen Vereinigungen angegliederten Terminservicestellen sind der Versuch, durch bessere, zentralisierte Verteilung der vorhandenen Ressourcen den sozialgesetzlichen Vorgaben zu entsprechen. Wir haben als gesetzlich Krankenversicherte schlichtweg das Anrecht auf eine zeitnahe fachärztliche Behandlung. Ich lehne mich nicht zu sehr aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass mehr als 3 Monate Wartezeit auf den Beginn einer Psychotherapie das Kriterium der zeitlichen Nähe nicht mehr erfüllen. Die durchschnittlichen Wartezeiten liegen seit ich denken kann deutlich über diesen 3 Monaten. Das taten sie auch 2019 noch – obwohl das Versorgungsangebot durch die Psychotherapeut*innen selbst seit den 00er-Jahren stetig verbessert wurde. Angestelltenverhältnisse, Jobsharing, das Teilen von Kassensitzen brachten neue Kolleg*innen in das Versorgungssystem und sorgten für eine bessere Auslastung der vergebenen Abrechnungsgenehmigungen, das heißt, zu mehr Therapieplätzen. Und zum lange fälligen Generationswechsel unter den Therapierenden. Junge, immer besser ausgebildete Kolleg*innen fließen endlich verstärkt in das System und mit ihnen höhere wissenschaftsbasierte Behandlungsstandards, die die Qualität der angebotenen Therapien für die Patient*innen erhöhen werden. Die demografische Verteilung unter den niedergelassenen Kolleg*innen bedroht dennoch weiterhin die psychotherapeutische Versorgung, denn während langsam jüngere Theras ihre Arbeit aufnehmen, altert der breite Stamm der Kolleg*innen zügig auf den Berufsaustritt zu. Bereits zu Beginn der 10-er-Jahre wurde von den Berufsverbänden gewarnt, dass eine Versorgungslücke aufgrund unzureichenden Nachwuchses und dem plötzlichen Wegfall der größten Alterskohorte unter den zugelassenen Theras drohe. Jetzt spitzt sich europaweit die Lage durch die Pandemie zu. Wie wollen die Länder der absehbar deutlich erhöhten psychischen Belastung ihrer Gesellschaften Rechnung tragen? Die Pandemie endet nicht mit der Durchimpfung irgendwelcher Bevölkerungen, denn sie wird sich sekundär in Form psychischer Erkrankungen fortsetzen. Die privilegierten Teile unserer Gesellschaft, die sich von Covid19 als Erkrankung nicht bedroht fühlen, werden sich in den nächsten Jahren noch umsehen, wie stark sie selbst dennoch von den Auswirkungen der Pandemie als gesellschaftlichem Phänomen betroffen sein werden. Natürlich sind wir geneigt uns zunächst den unmittelbar wichtigen Maßnahmen zur Eindämmung der eigentlichen Viruserkrankung zuzuwenden. Dennoch ist ein zu kurzsichtiger Blick auf das Geschehen eine gefährliche Nachlässigkeit: Um nur auf das vorpandemische Niveau der psychosozialen Versorgung zurückzukehren, wäre eine beträchtliche Verstärkung der Versorgungsangebote erforderlich. Dabei ist nicht nur die Rede von ambulanten Psychotherapien. Auch Freizeit- und Inklusionsangebote, Wiedereingliederungs- und Rehabilitationseinrichtungen sind Leistungen, auf die Patient*innen manchmal zu lange, manchmal und besonders mit regionalen Schwerpunkten sogar vergeblich warten. Der Druck auf all diese Systeme wird in den nächsten Jahren erheblich zunehmen.

Wenn Krisen etwas Gutes haben, dann sicherlich, dass sich in ihnen die bestehenden Schwächen zeigen. Ein konstruktiver Umgang mit Krise bedeutet eine bewusste Zurkenntnisnahme dieser systematischen Defizite und erlaubt sie zu reduzieren oder gar beseitigen, um auf neue kritische Bedingungen in Zukunft besser vorbereitet zu sein. Wir hätten 2020 sehr genau feststellen können, welche Bereiche gesellschaftlichen Zusammenlebens wir in der Vergangenheit besonders vernachlässigt haben. An welchen Bevölkerungsgruppen wir stets sparen, vielleicht auch, welche am Ende verzichtbaren wir genauso selbstverständlich mästen, ohne das je in Frage zu stellen.

Haben wir genau genug hingesehen? Oder haben wir den Blick abgewandt, als er uns zu unbequem wurde oder sich uns eine nur zu willkommene Ablenkung bot? Werden wir uns damit begnügen, bestimmte Standards für die Wenigen wieder herzustellen? Die Verluste durch ein kurzes aufflammendes Mehr an spontanen Freuden auszugleichen versuchen? Durch exzessives Reisen, Feiern, Kaufen und überdimensionale Massen-Events? Werden wir uns der Erleichterung hingeben und alles in uns hineinwerfen, das uns vergessen lässt? Oder können wir einen Fortschritt aus dem Scheitern generieren? Können wir historische Fehlentscheidungen rückgängig machen? Unsere Verletzlichkeit und die Vergänglichkeit unserer Lebensweise zur Kenntnis nehmen und daran wachsen? Können wir gar einige Erfahrungen mit der Pandemie auf andere große Probleme übertragen? Auf die Klimakatastrophe? Auf drohende globale Verteilungskämpfe?

Ich muss eine etwas pessimistische Erwartung diesbezüglich einräumen. Die Entwicklungen der letzten Monate lassen wenig hoffen, dass wir uns mit den besonders von den Folgen Betroffenen solidarisieren. Dass wir systematische Korrekturen vornehmen, dass wir unsere Prioritäten und Privilegien prüfen und den Erfahrungen gemäß anpassen. Zumindest nicht auf breiter Fläche – soviel scheint klar. Mag aber sein, dass Einzelne etwas gesehen, etwas gelernt haben, das sie in Zukunft nutzen, das sie in ihre Umwelt tragen werden. Dass Lehren der Krise so doch langsam in das Denken der Masse einrieseln und nachhaltige Veränderungen begründen. Und daran, dass sich die Einzelnen nachhaltig verändern können, glaube ich als Psychotherapeut natürlich …

Natürlich war nicht alles schlecht 2020! Auch gesundheits-systemisch nicht: Die zentrale Beschaffung und Verteilung von Verbrauchsartikeln zur Umsetzung der Hygienevorschriften durch die KV verlief zumindest hier in NRW aus meiner beschränkten Sicht der kleinen ambulanten Psychotherapiepraxis ganz befriedigend. Da wurden schnelle Lösungen gefunden als sie benötigt wurden und auch mit der Kommunikation war ich einigermaßen zufrieden. Als Online-Sprechstunden wichtig wurden, wurden unkompliziert Fördergelder verfügbar zur Anschaffung technischer Mittel gemacht und wurden hinderliche Vorschriften kurzfristig außer Kraft gesetzt. Ich denke sowohl die Behandelnden als auch die Verwaltenden haben sich sehr engagiert, um die Versorgung der Versicherten so gut und so schnell wie möglich wieder sicherzustellen.

Mich als Thera hat die Krise gezwungen, ein paar Neuerungen in Angriff zu nehmen, die ich vorher stets aufgeschoben hatte, weil ich mich beruflich so schon gänzlich ausgelastet fühlte. So hat die Option der Video-Kommunikation in Therapie, Supervision und kollegialer Zusammenarbeit Einzug gehalten und ich bin ziemlich sicher, dass sie nicht mehr aus unserem Arbeitsalltag verschwinden wird. Die Auseinandersetzung über das Wie, Wann und Wieviel technischer Mittel hat damit indes sicher gerade erst begonnen. Aber auch das ist ein wichtiger Fortschritt. Wir erschließen uns damit neue Methoden zur Behandlung oder Behandlungsunterstützung, ermöglichen bestimmten Patient*innen-Gruppen erst die Teilnahme an unseren Therapieangeboten. Werden aber auch dafür streiten müssen, die Grenzen und potenziellen Schäden und Verluste eines undifferenzierten Einsatzes technischer Hilfsmittel aufzuzeigen.

Die persönlichen Einschränkungen in der Pandemie und die Auseinandersetzung darüber mit von Marginalisierung betroffenen Menschen hat mein Bewusstsein für meine eigenen Privilegien und meine selbstverständliche Ignoranz ihren Lebensrealitäten gegenüber geschärft. Damit treffen auch meine Patient*innen nun bei mir auf ein besseres Verständnis für ihre Situationen und Perspektiven, sei es aufgrund chronischer somatischer Erkrankungen, Armut, Leben in gewaltvollen Umgebungen, mangelndem Zugang zu Infrastruktur oder sozialer Isolation. Es gilt für mich, dieses Bewusstsein wach zu halten, auch wenn die alltäglichen Einschränkungen mich nicht mehr selbst betreffen.

Wie wird es 2021 weiter gehen? Ist das mehrfach zum Schauer-Jahr erklärte 2020 einfach vorbei und nun erwartet uns die Erlösung? Schließlich ist Trump … naja fast … weg. Der magische Impfstoff, der uns alle retten wird, ist gleich in mehrfacher Ausgabe da. Können wir bald einfach weitermachen mit all dem, mit dem wir im letzten März aufgehört haben?

Ich habe ja schon vorweggenommen, dass ich für 2021, 2022 und eventuell auch noch etwas länger danach nicht mit einer deutlich günstigeren Lage rechne. Aber wie so oft ist die Prognose sehr abhängig davon, wessen Zukunft wir betrachten.

In der Tat ist zu befürchten, dass mit dem Eintreffen der ersten Impfdosen für einige Menschen die Rückkehr ihrer persönlichen Freiheit bereits begonnen hat. Mit jeder Impfung, die im persönlichen Umfeld dieser Menschen vorgenommen werden wird, wird auch die persönliche Betroffenheit von Risiken und drohenden menschlichen Verlusten abnehmen. Wenn die eigene Oma nicht mehr von der Infektion betroffen sein wird, wird der Impuls, aus Rücksicht eine Maske im Alltag zu tragen, für viele Menschen gut sichtbar nachlassen. Dass ein bedeutender Teil sogenannter Risikogruppen zunächst nicht in den Genuss der schützenden Impfung kommen wird, weil das individuelle Risiko durch die Impfung vor den Krankheitshintergründen zu hoch oder zumindest zu ungewiss ist. Das wird als Motiv genauso wenig ausreichen, wie bisher dafür, sich jährlich zum Schutz der Anderen gegen die Influenza impfen zu lassen und vielleicht sogar bei Symptomen eine Maske zu tragen. Die Zahl derer, die das doch tun, wird im Vergleich zu früher etwas zunehmen, denn manchmal fehlt einfach nur eine bestimmte Information, um die längst vorhandene Bereitschaft, sich zu solidarisieren, zu aktivieren. Aber es werden in überwiegendem Maße die Gruppen sein, die bereits auch bei anderen Themen aus Mitgefühl und ethischer Haltung heraus zurückstecken, verzichten, Zeit und Arbeit investieren.

Entsprechend ist zu befürchten, dass die Maßnahmen gegen Covid19 auch 2021 nicht mit der notwendigen Konsequenz ausgeführt werden, und wir uns noch länger mit den Folgen dieser kollektiven Planlosigkeit konfrontiert sehen werden. Wir werden fortlaufend und leider wohl auch zunehmend die Auseinandersetzung mit denen führen müssen, die das Tragen eines Stofffetzens vor dem Mund, das regelmäßige Händewaschen und das Wahren von Distanz als vergleichbar belastend betrachten wie die stetige Lebensbedrohung mit der andere Menschen leben müssen. Diese gleiche Maßlosigkeit, die beim Abwägen der eigenen Wohlstandsinteressen gegen die existenziellen Interessen anderer Menschen, schon immer zum Tragen kommt. Den Interessen von Menschen ohne ein schützendes Zuhause, ohne basale Gesundheitsversorgung, ohne gesicherte Ernährung, ohne Zugang zu sauberem Wasser, ohne Chance auf eine selbstbestimmte Entwicklung.

2020 wurde eben nicht magisch zu dem „Worst year ever“, wurde nicht verflucht. Qualität und Ausmaß dessen, was 2020 für viele von uns symbolisiert, ist das langfristige Ergebnis menschlichen Handelns. Der strukturellen Defizite, die wir auf individueller wie auf globaler Ebene über die Geschichte hinweg kultiviert haben. Wir haben uns Schritt für Schritt entschlossen, uns abzulenken, unbehagliche Gedanken und Wahrheiten von uns fern zu halten und auf ein Morgen zu verschieben, dass für einige 2020 etwas früher kam, als sie sich erhofft hatten. Generationenübergreifend hoffen wir, dass die großen Katastrophen die Welt erst dann heimsuchen, wenn wir schon längst unter der Erde liegen. Anlässlich eines natürlichen Todes nach einem erfüllten Leben, so mit 123 oder so ….

Dass diese Rechnung nicht aufgehen könnte, sollte spätestens 2020 allen klar geworden sein. Nachdem wir gelernt haben, die Gefährdeteren mit unserer Solidarität zu schützen und uns an die damit verbundenen, hoffentlich zeitlich begrenzten, Verluste anzupassen, müssen wir zu den zahlreichen nicht minder bedrohlichen Themen zurückfinden. Müssen uns zum Beispiel daran erinnern, dass Rassismus weiterhin eine reale Lebensbedrohung für einen Großteil unserer Mitmenschen darstellt, auch weil die Privilegien, die Macht in dieser Welt rassistisch verteilt sind. Daran erinnern, dass der Gegenwartswohlstand sich aus dem Raub an den zukünftigen Lebensverhältnissen auf diesem Planeten speist. Dass das Prinzip eines sich selbst regulierenden Marktes ein faules und verantwortungsloses Rechtfertigen der eigenen Vorherrschaft und Gleichgültigkeit darstellt und eben nicht zu einer fairen Umverteilung sondern zur Vergrößerung von Machtungleichheit führen muss.

Von meinen Erwartungen für diese eher großen Zusammenhänge zu den kleineren, zu denen, die mich vor allem in meiner Rolle als Psychotherapeut betreffen.

Wie bereits beschrieben rechne ich mit einem anhaltenden Ansturm auf meinen Anrufbeantworter. Ich rechne damit, dass uns zusätzlich die Hausärzt*innen und die Terminservicestellen der KVen in heerer Absicht bedrängen werden, Ihnen den eigenen wachsenden Druck abzunehmen. Schließlich werden viele von uns ambulanten Theras sich nicht mehr anders zu helfen wissen, als weitere Anfragen abzulehnen und ihrerseits an andere bereits überlastete Stellen weiterzuleiten. Für komplexe Störungsbilder, für die eine 10-Sitzungs-Kurzzeit-Intervention nunmal nicht ausreichen wird, werden die Wartezeiten auf schlechter passende Therapieangebote weiter zunehmen. Laufende Therapien werden durch immer wieder auftretende Lockdowns oder Sitzungsausfälle unterbrochen, im Prozess gestört werden und so an Effizienz verlieren. Das werden auch Online-Sitzungen nicht verhindern können. Als wäre das nicht genug, tritt mit dem 01.01.2021 die elektronische Patientenakte in Kraft. Wir müssen offiziell dran teilnehmen – quasi ab sofort. Die dafür erfoderlichen Heilberufsausweise gibt es für Psychotherapeut*innen dabei noch gar nicht. Nicht ein Anbieter steht bisher zur Verfügung, vom versprochenen „Markt“ weit und breit keine Spur. Wobei mir zu keinem Zeitpunkt klar war, warum zur Ausgabe von Ausweisen ein Markt geeigneter sein sollte als der längst vorhandene Verwaltungsapparat. Da freue ich mich doch auf den Vortrag beim diesjährigen Remote-Kongress des Chaos Computer Clubs, der uns voraussichtlich weitere Lücken in der in den letzten 4 Jahren installierten Telematik-Infrastruktur präsentieren wird. Über diese Katastrophen deutscher marktradikaler Gesundheitspolitik ließe sich wohl ein eigener Podcast füllen. Darüber zum Beispiel, dass vermutlich 80% aller Praxen von den Anbietern fachkundig mit einer Reihenschaltung der sogenannten Konnektoren ausgestattet wurden, die zu keinem Zeitpunkt den Sicherheitsrichtlinien entsprach. Deshalb können jetzt wieder neue Subunternehmen uns so bezeichnete Hardware-Firewalls anbieten, die wir ebenfalls monatlich per Abo finanzieren sollen, um die Defizite der bisherigen Installationen auszubügeln. Nichts wächst in diesem Ökosystem so schnell wie die neuen Geschäftsmodelle, mit denen Geld aus dem unterfinanzierten Gesundheitssystem gesaugt werden kann.

Aber neben aller Dystopie freue ich mich auch. Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit mit meinen Patient*innen, mit diesen vielfältigen wunderbaren Menschen, mit denen zusammen ich versuche, ihre Leben wieder in eine glücklichere Bahn zu leiten. Mit ihnen Möglichkeiten zurückzuerobern, Fähigkeiten auszubauen und ihre Teilhabe an all dem, das wir Gesellschaft nennen, zu verbessern. Ich bilde mir ein, dass sie dabei Kompetenzen entwickeln, die sie bewusster, unabhängiger, selbstbestimmter – und im Einzelfall vielleicht auch mitfühlender machen. Ich bilde mir gern ein, dass das mein kleiner aber auch nicht ganz unbedeutender Anteil an Veränderung ist. An Veränderung, die wir alle im Grunde so unglaublich dringlich brauchen. Ob uns das bewusst ist oder nicht.

Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit großartigen und engagierten Kolleg*innen, hoffentlich eine Rückkehr in den kollegialen Diskurs und sei er auch nur videofonisch. Ich freue mich auf die Wiederbegegnungen mit den Freund*innen und Genoss*innen, die für eine bessere, solidarischere, gleichgestellte und offene Welt kämpfen. Hoffentlich irgendwann auch wieder im persönlichen Kontakt, auf der Straße, in den Zentren.

PLBD012 Irgendwie mit Juna

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Mitwirkende

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Homer S. (er)

Shownotes

Vorwort


Herzlich Willkommen zur 12. Ausgabe der Plapperbude. In dieser Episode unterhalte ich mich ohne Skript und Themenvorgabe mit der Autorin Juna Grossmann. Juna hat 2018 ihr Buch „Schonzeit vorbei“ veröffentlicht. Bereits zuvor und darüber hinaus verbloggt sie ihre Perspektive unter irgendwiejuedisch.de. Im Gespräch berühren wir unter anderem die Themen Corona-Pandemie, Rassismus, Antisemitismus und Marginalisierung insgesamt. Das Gespräch wurde aufgenommen am 30.06.2020.

Anmerkungen und Fragen zur Episode könnt Ihr wie immer direkt auf plapperbu.de, unter dem Veröffentlichungs-Toot auf Mastodon oder in der Plapperbude-Matrix-Community loswerden.

Nix mit mehr Zeit!

Juna:

  • Entlastung durch Ausfall von Veranstaltungen: Brauchte ne Pause.
  • Sorge um Freunde
    • deren Buchveröffentlichungen in die Pandemie fielen
    • die erkrankten – ernste Covid19-Erkrankungen, Risikogruppe
  • Museenschließungen: Kein Urlaub für Mitarbeiter*innen
    • Laufende Prozesse müssen geregelt werden
    • Unterschiede, wie sich Einrichtungen um die verschiedenen Beschäftigten kümmern
    • Mehr Anfragen von Menschen weil Archive zu und offenbar mehr Zeit als sonst für Nachforschungsthemen.
      • SocialMedia-Verantwortung darunter deutlich gestiegen.
    • Mehrere Jahrestage fielen in die Zeit, die durch EInschränkungen nicht einfach wegfielen.
  • Ergebnis: Sogar Überstunden Museeum ist mehr als nur Besuchszeiten.

Homer:

  • Ähnliche Phänomene in Praxisbetrieb
    • Technik-Aufbau für Video-Sprechstunden
      • Hardware auftreiben in Mangelzeiten
      • Hinreichende Bandbreite auf allen Seiten
    • Formalia, Datenschutz, Bürokratie im Eilverfahren
  • Am Ende mehr Arbeit als sonst …Keine zusätzlichen Bücher gelesen …

Vorzüge in Pandemie

  • So viel stiller draußen in der Stadt. Viel weniger Autos.
  • Luft klarer.
  • Tiere kehren zurück …
  • Leben ohne Auto angenehmer unter Ausnahmebedingungen.
  • Gesellschaft verpasst die Chance auf Veränderungen, die Pandemie hätten anstoßen können (Verkehr).
  • In Berlin deutlich mehr Räder unterwegs.

Sozialverhalten in der Pandemie

Marginalisierte Gruppen

  • Mangelnde Rücksichtnahme und Interesse auch aus anderen typischen Bereichen von Marginalisierung bekannt
  • Leugnen, bewusste Ignoranz, Schutzbehauptungen, Tokenismus
  • Problem mangelnder Repräsentation

Rolle eigener Sozialisation

  • Janusz Korczak https://de.wikipedia.org/wiki/Janusz_Korczak
  • Informationsaufwand heute deutlich geringer als noch vor 30 Jahren:
    • Bücher, Podcasts etc. zu verschiedenen Aspekten von Marginalisierung
    • Lust und die Neugier auf das Kennenlernen neuer Perspektiven (Vorsichtige Ankündigung eines neuen Medienprojekts)
    • Einwand beschränkter Erfahrungswelten und damit verbundener Werte und Interessen.
  • Rolle von Othering auch bei Ignoranz der Weißen.
  • Über Mechanismen und Reflexe, die Marginalisierung erhalten.

Twitter bzw. andere Netzwerke

  • Während Covid19 an frühe Zeiten von Twitter erinnert:
    • Unterstützend, solidarisch …
    • … aber nicht lange.
      • oft Kämpfe im großen Verband: Herrschende Clique bestimmt, wer jetzt dran ist. An Schulhof-Mobbing erinnert.
      • „Twitter ist nicht gut für die Seele“ wg. der dort etablierten Feindseligkeit.
  • Was können welche Netzwerke weswegen leisten bzw. nicht leisten?
    • Systematische Unterschiede und unerfreuliche Entwicklungen mit der Zeit und Größe eines Netzwerks
    • Schulhofgefühl (s.o.)
    • Frustkübel Twitter – die schlechte Laune rauslassen. Formt die Gesamtstimmung des Netzwerks.
    • Netzwerk als Werkzeug(e), dessen Form seine Nützlichkeit bestimmt
      • Bsp. Content Warnings als Mittel zum Autonomiegewinn
    • Subjektive Bedeutung des Online-Lebens abhängig von Lebensumständen
  • Ich-Orientierung und mangelnde Perspektivwechsel

Erfahrungen aus Junas Lesungen

  • Menschen begreifen selbst nach den rezitierten Geschichten die Bedeutung und Gegenwart von Antisemitismus nicht.
  • Gewöhnung an Diskriminierung
  • Anekdoten

Wahrnehmung von „Andersheit“

Umgang mit Diskriminierung und Marginalisierung

Jüdisches Leben in D

Abschied und Dank

Feedback-Hinweis

Mastodon-Account der Plapperbu:de https://social.tchncs.de/@Plapperbude
Matrix-Community der Plapperbu:de https://matrix.to/#/+plapperbude:ismus.net

Tonquellen

Intro und Outro:

Intermission entstammt:

PLBD011 Chronische Erkrankungen ++

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Mitwirkende

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Lotte

Shownotes

Es spricht Lotte, die Ihr bereits aus der Trilogie über Chronische Erkrankungen kennt:

Falls Ihr den Podcast erst sehr viel später hört, hier eine

Lottes Erleben des „Lockdown“

Der Matthäus-Effekt: „Wer hat, dem wird gegeben“

Das Problem der Reduktion auf die Repräsentation

Die Krankenhaus-Anekdote

Pandemiezustand als Chance zum Perspektivwechsel

Die Stuhlgymnastik-Anekdote

Einsamkeit und Bedeutung sozialen Kontakts

Wie daraus 1 Podcast machen?!

Feedback-Hinweis

Mastodon-Account der Plapperbu:de https://social.tchncs.de/@Plapperbude
Matrix-Community der Plapperbu:de https://matrix.to/#/+plapperbude:ismus.net

Tonquellen

Dank für Intro und Outro gilt:

Lesung »Schonzeit vorbei«

Plapperbu:de presents:

Juna Grossmann liest aus ihrem Buch »Schonzeit vorbei«

Nirgendswo auf der Welt gibt es ein anderes Volk dass so verhasst
ist wie ihr Juden. Ihr Juden seid keine Menschen, sondern eine
Krankheit, das man vermeiden muss. Die Welt vermisst Hitler,
insbesondere die muslimische Welt. Eines Tages wird es für euch
Juden ein böses Erwachen geben, so dass ihr sogar Hitler um Hilfe
bitten werdet.

Diese Zeilen sind ein orthographisch unveränderter Auszug aus den täglichen
Zuschriften an Juna Grossmann. Juna Grossmann arbeitet in einer NS-
Gedenkstätte und beobachtet seit Jahren, wie offene judenfeindliche Angriffe
zunehmen, lauter werden, bedrohlicher. In ihrem Buch schildert sie das Leben
unter diesem permanenten antisemitischen Beschuss, berichtet vom Wachsen
einer Angst, die sie vor einigen Jahren noch nicht kannte, und davon, wie sie
eines Tages merkte, dass auch sie mittlerweile auf gepackten Koffern lebt, bereit
zur Flucht vor dem Hass. Weil sie sich damit nicht abfinden will, geht sie in die
Öffentlichkeit, schreibt dieses Buch zum 80. Jahrestag des Novemberpogroms
von 1938 und appelliert an ihre Mitbürger*innen: „Steht zu uns, helft uns, greift
ein! Denn auch für euch ist die Schonzeit vorbei.“

Lesung

Nach zahlreichen Lesungen in ganz Deutschland seit Veröffentlichung ihres Buches 2018 kommt Juna nun auch endlich nach Münster. Mit freundlicher Unterstützung des AStA der Universität Münster, der Falken/SJD sowie des leo16 Kultur- und Kneipenkollektivs begrüßen wir Juna

am Samstag, dem 29. Februar 2020

ab 19:00 Uhr

in der Leo16, Herwarthstraße 7, Münster

Die Teilnahme ist dank Förderung kostenfrei, der Platz in der Leo16 allerdings begrenzt. Wir bitten daher um verbindliche Voranmeldung (bei Gruppen unter Angabe der Gruppengröße) an lesung@plapperbu.de (GPG-Key).

Wir bitten um Verständnis, dass mit der Anmeldung keine Sitzplatzgarantie verbunden ist. Wir rücken zusammen, damit möglichst viele Menschen an Junas Lesung teilhaben können.

Selbstverständlich sind Menschen mit antisemitischer oder anderer menschenfeindlicher Haltung nicht willkommen und von der Teilnahme ausgeschlossen.

PLBD010 Content Warnings

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Mitwirkende

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Homer S. (er)

Shownotes

INHALTSWARNUNG

00:00:01
  • Die vorliegende Episode beschäftigt sich mit dem Umgang einer sich selbst als "normal" definierenden Mehrheitsgesellschaft mit marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Insbesondere, wenn Du zu einer dieser Gruppen gehörst, kann dich der Inhalt emotional aufwühlen oder andere Belastungen auslösen oder verstärken. Prüfe bitte vor dem Anhören, ob Du Dich gerade in der Lage fühlst, Dich mit Diskriminierungs~ und Ausgrenzungserfahrungen auseinanderzusetzen. Andernfalls kannst Du das Anhören auf einen späteren, stabileren Zeitpunkt verschieben. Wenn Du Dich für das Anhören entscheidest, prüfe zwischenzeitlich Deinen Zustand und Deine Energieressourcen und erlaube Dir, das Anhören regelmäßig zu unterbrechen und Dir ausreichend lange Pausen zu gönnen. Ein wesentlicher Vorteil von Podcasts ist schließlich, dass sie Dir nicht weglaufen 🙂 Es kann auch hilfreich sein vorab zu prüfen, ob dein soziales Unterstützungsnetz (Freund*innen, Behandler*innen, Begleiter*innen, Krisentelefon etc.) im Notfall zeitnah verfügbar ist.

Vorwort

00:09:31
  • Jahre alte Debatte/Streit über Sinn und Unsinn von Inhaltswarnungen
    • Entbrennt in regelmäßigen Abständen insbesondere in sozialen Netzwerken
    • Unversöhnliche Positionen, die zu Zerwürfnissen, Block-Orgien und Invalidierungen führen
    • Auseinandersetzung bleibt oft oberflächlich auf Basis von Halbwissen
      • z.B. häufig verbreitete Folge eines Podcasts mit drei weißen Männern als Kronzeugen gegen die Forderung nach Inhaltswarnungen.
    • Mehrheit bewegt sich auf Kontinuum zwischen teilweisem Unverständnis für weitreichend erscheinende Forderungen und der kategorischer Ablehnung.
    • Natürlich unwahrscheinlich, dass sich "Hardliner*innen" überzeugen lassen wollen.
    • Aber für Ambivalente, Wohlwollende mögen ergänzende Informationen zu Inhaltswarnungen für eine Bereitschaftsänderung ausreichend sein.
  • Dazu möchte ich aus meiner Perspektive eines psychotherapeutischen Praktikers, versuchen beizutragen.

Was sind Inhaltswarnungen?

00:20:13
  • Stichworte für Themen, die als besonders belastend für alle oder bestimmte Gruppen bekannt sind.
  • Aber auch Thematische Hinweise, auf Themen, die nicht allgemein als belastend anerkannt sind.
    • Ggf. als Serviceleistung an die Gesamtheit, um in großer Informationsmenge schneller gewünschte von aktuell unerwünschten Inhalten zu trennen.
  • Ausführungen beziehen sich vor allem auf CW im Rahmen sozialer Netzwerke,
    • die sich in der technischen Unterstützung stark unterscheiden
  • CW können aber vor jede Art von Kommunikation geschaltet werden, bei Vorträgen, Podcasts, Filmen, Büchern, Artikeln, Blogeinträgen etc.

Was sind Trigger?

00:26:35
  • Traumafolgestörungen
    • Begriff "Trigger" spielt wichtige Rolle in Kontext von Traumafolgestörungen.
    • Dort können im langjährigen Verlauf sogar völlig neutrale Reize mit Bruchstücken von Traumaerinnerungen verknüpft und so zu Auslösern unfreiwilligen Wiedererlebens werden.
    • Spezifischere Reize haben aber weiterhin höhere Auslöse-Wahrscheinlichkeit.
  • Dysfunktionale Schemata
    • Auch sog. frühe dysfunktionale affektive Schemata können "getriggert" werden.
    • Das sind in Kindheit und Jugend erworbene Erlebensmuster bzw. Erinnerungen an nicht günstige bewältigte emotionale Überforderungserfahrungen.
    • Ähnliche Situationen oder starke ähnliche Gefühle können diese Schemata auslösen, die sehr leidvoll erlebt werden und zu unangemessenem Bewältigungsverhalten führen.
  • In beiden Fällen steigen Belastung und Überforderung sprunghaft an und lösen eine Krise aus, die von Stunden bis zu Wochen oder Monaten anhalten kann.
  • Chronische Belastungen
    • Chronische Belastungen beschreibt unspezifisch ein breites Feld von Eigenschaften oder Bürden, die in unserer Welt diverses Leid bedeuten können.
    • Chronische Erkrankungen, Behinderungen, Hautfarbe, Geschlecht/Gender aber auch bedürfnis- oder verhaltensbezogene Abweichung von der Normgesellschaft erfüllen dieses Kriterium.
    • Die stetige Konfrontation mit den Ausgrenzungs- und Marginalisierungsmechanismen ihrer Umgebung frisst andauernd an ihrer Energie, ihrer Lebensfreude, ihren materiellen Ressourcen, was zu immer weiterer Benachteiligung im Vergleich zur privilegierten Normgesellschaft führt.
  • Beispiele für die Lebensrealität von Menschen mit chronischen Erkrankungen findet Ihr in den Folgen 7-9 der Plapperbude
  • nähere Erklärungen zu Traumafolgestörungen in
  • Mehr zu den Konsequenzen von Rassismus empfehle ich die Lektüre von
    • Eddo-Lodge, R. (2019) . Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche (1. Aufl.) . Tropen.
  • zu denen von Antisemitismus in Deutschland
    • Grossmann, J. (2018) . Schonzeit vorbei (1. Aufl.) . Droemer Knaur.

Betroffene

00:39:01
  • Inhalts~ oder Triggerwarnungen geben den Betroffenen vorgenannter Gruppen Kontrolle über ihre aktuelle Belastung.
  • Die ausgewogene Steuerung aus Konfrontation und Stabilisierung ist Basis jeder qualifizierten Behandlung ggf. vorliegender psychischer Leiden.
    • Überforderung verschlimmert das Leiden, Langfristige Vermeidung ebenfalls.
    • Nur ein Gleichgewicht, dass beide Pole meidet ermöglicht erfolgreiche Bewältigung
    • Oft pendeln Betroffene aber zwischen den Polen und bestimmen ihr Handeln nur sehr eingeschränkt selbst. Diese Selbstbestimmung setzt Entscheidungsmöglichkeiten voraus.
  • Das Fehlen von Entscheidungsmöglichkeiten verhindert somit die Teilnahme an Kommunikation, die diese Notwendigkeit verweigert.

Solidarische

00:45:57
  • Durch fehlende Rücksichtnahme werden Betroffene bereits aus dem Diskurs gedrängt bzw. werden ihre Forderungen invalidiert, sie als Person ggf. diskreditiert.
  • Solidarische Menschen versuchen entsprechend diese Lücke zu kompensieren, indem sie sich stellvertretend in die Auseinandersetzung begeben. Daraus folgen einige Problem.
    • Betroffene sprechen dadurch ggf. erneut nicht für sich, werden auch von Solidarischen zu wenig gehört und so trotz Fürsprache marginalisiert.
    • Solidarische verkennen ggf. die Unvollständigkeit ihrer Perspektive, da sie nicht auf Erfahrung sondern empathischem Nachempfinden beruht.
    • Invalidierung Betroffener als abhängig, defizitär, ungenügend.
  • Generell sind sie aber erforderlich, um die Marginalisierung durch Feindselige oder Gleichgültige zu überwinden.

Gegner*innen

00:51:54
  • entstammen überwiegend Populationen, die maximal einen Marginalisierungs-Faktor auf sich vereinen:
    • Deutsche Twitteria
    • Tech-Bros
    • Podcast-Szene
  • sind allein durch Zugehörigkeit, Einbindung in solche Gruppen wiederum privilegiert / in einer Mehrheit.
    • Bekanntes Problem: Wer privilegiert ist sammelt dadurch tendenziell immer mehr Privilegien an, wer von Marginalisierung betroffen ist, wird über die Zeit von immer mehr Marginalisierung betroffen.
      • Populärstes Beispiel: "Die immer weiter auseinander klaffende Schere zwischen Arm und Reich".
  • Selbstbild: aufgeklärt und unheimlich bewusst, mitfühlend und tolerant. Was im relativen sozialen Vergleich vermutlich sogar Bestätigung findet.
    • Forderungen Marginalisierter an sie sind in ihrer wichtigen und unglaublich beschäftigten Welt nicht vorgesehen. Sind ein Frevel am positiven Selbstbild.
    • Forderungen stören den eigenen Flow und Bedürfnisse nach Effizienz.
    • In der ablen "Macher~Welt" sind Zuhören und Verstehen zu langsam. Beschäftigung mit Problemen ist lästig, stört, hält auf. Entsprechend um (vermeintliche) Lösungen oder Ratschläge nie verlegen.
      • Sehr Techi~typisches Problem und einer Zeit geschuldet, in der Einzelpersonen alleine Programme entwickelten und nicht auf Kooperation angewiesen waren.
  • wenig bis keine substanzielle Einblicke in die Lebensrealität marginalisierter oder eingeschränkter Menschen == "toter Winkel"
    • strukturelle Benachteiligungen oftmals kaum bewusst, wenn dann sehr oberflächlich
    • Unterschätzung begleitender sozioökonomischer Privilegien (zumindest der Herkunft und dem Ausbildungsgrad nach) .
      • Bedeutung der Verfügbarkeit von Ressourcen zur Diskursteilnahme und damit Macht in der diskursiven Auseinandersetzung mit Marginalisierten.
      • Aus Gewöhnung an eigene privilegierte Umwelt folgt der Anspruch auf Definitionsmacht, was angemessene Forderungen an sie sind.
      • selbst wenn Menschen mit Marginalisierungsgrund persönlich bekannt, handelt es sich dabei i.d.R. um 'relativ Privilegierte', d.h. deren Kompensationschancen am höchsten sind. Diese eigenen sich oft optimal als Token.
      • entsprechend können auch eigene ggf. überwundene Belastungen zur Delegitimierung von Forderungen anderer Betroffener ins Feld geführt werden.
        • Ohne jede Differenzierung und unter Ausblendung der eigenen relativen Privilegien (Intersektionalität)
  • Alles Leiden entsteht aus Anhaftung oder Unwissenheit.
  • Übersetzt: Gier, Egozentrik, Abhängigkeit und schlichter Mangel an Information (z.B. Mangels vergleichbarer Perspektive oder Kontakt) .
  • Gegen die ersten drei kann ich hier wenig tun. Aber neue Informationen kann ich vielleicht liefern.

"Die Welt ist nun mal so!"

01:10:07
  • Das Verbergen in der Realität auftauchender Inhalte oder Objekte sei nutzlos, weil sie sich ja eben nicht vermeiden ließen.
  • Suggeriert ein Schwarz~Weiß~Bild von Realität, die vollständig determiniert sei. Negiert die Steuerbarkeit von Belastungen auf Kontinuen sowie abhängig davon den Sinn von Schutzräumen für Schutzbedürftige.
    • Meist nur für das gerade opportune Thema. Bei anderen Themen wird das oft zugestanden.

"Kein Beweis für Wirksamkeit"

01:13:30
  • Es gibt zu diesem Bereich insgesamt wenig belastbare empirische Forschung ~ aus diversen Gründen
    • Content Warnings an sich sind ein vergleichsweise junges Konzept - schon weil auch Internet-Netzwerke an Forschungszeiträumen gemessen sehr jung sind.
    • Marginalisierungen werden selbstverständlich auch in Forschungskontexten marginalisiert - schon allein weil auch die Forschenden im Schnitt weit weniger Marginalisierungen ausgesetzt sind als die Restbevölkerung. Mehrfach Marginalisierte schaffen es i.d.R. erst gar nicht in akademische Zusammenhänge.
    • aus dem selben Grund ist die Forscher*innen-Perspektive in den wenigen vorliegenden Arbeiten oftmals eine wiederum beschränkte.
    • Psychotherapie und ihre wissenschaftliche Erforschung ist ebenfalls noch extrem jung. Damit sind die Verständnisse von Belastungen, Störungsbildern und einhergehender Marginalisierung in stetigem Wandel, was die Verbesserung der Realiabilität und Validität von Forschungssettings keinesfalls erleichtert.
      • Psychotherapie orientiert sich aber aus guten Grund zunächst immer an der subjektiven Wahrnehmung und den authentischen Bedürfnissen der Hilfesuchenden und invalidiert weder ihre Wahrnehmung noch ihre Ansätze zur Bewältigung.
  • Das Fehlen von Wirksamkeitsbeweisen ist kein Beweis für Unwirksamkeit. Ein Vergleich mit Pseudomedizin wie Homöopathie verbietet sich, da die Sachlage hier eine völlig andere ist: Es gibt zahlreiche Gegenbeweise, Es handelt sich um einen nachvollziehbaren Missbrauch durch Dritte, nicht Betroffene, Eine Wirksamkeitsprüfung von Homöopathie ist leicht nach bewährten Standards durchführbar. Das ist bei CWs sehr viel komplexer.
    • Selbst wenn CW wie Homöopathie maximal eine Plazebo~Wirkung hätten, wäre das ein Argument FÜR ihren Einsatz, da nicht nur keine NW sondern auch nahezu kosten~ und missbrauchsfrei.
    • Ein Schaden durch CW ist nicht nur nicht bekannt sondern auch nicht plausibel.

"Vermeidung muss überwunden werden - Mach ne Therapie!"

01:13:34
  • Richtet sich entweder auf Menschen mit Traumabackground. Dann völliges Misskonzept von Traumafolgestörungen.
  • Oder die Ferndiagnose ergibt geringere Störung.
    • Auf jeden Fall wäre damit die Annahme verbunden, die Legitimität der Forderung besser beurteilen zu können als die sie Stellende.
  • Außerdem Überwinde man seine Probleme ja durch Konfrontation ~ "Das weiß man ja."
    • Tatsächlich sind Expositionstherapien in der modernen Psychotherapie bei Angststörungen inklusive Zwängen dominant, gut empirisch abgesichert und erstes Mittel der Wahl. Aber: Es gibt halt nicht nur Angststörungen.
      • Traumafolgestörungen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie, dissoziative Störungen sind etwas komplexer als eine spezifische Phobie.
      • Selbst wenn dort dominante Behandlungskonzepte Exposition beinhalten, ist das jeweils nur ein Bestandteil eines umfangreicheren Pakets und i.d.R. nicht eben durch eine dreimonatige Kurzzeittherapie aus 10 Sitzungen bewältigbar. D.h. die Betroffenen müssen ggf. trotz Therapie viele Jahre oder sogar bis Lebensende mit erheblichen Belastungen leben.
      • Reizoffenheit/Hypervigilanz und Übererregtheit/Hyperarousal sind sehr typische Symptome von z.B. Traumafolgestörungen oder im Bereich autistischer Erscheinungsformen. Diese sind teilweise nicht durch Therapien veränderbar, beruhen z.T. auf irreversiblen physischen Abweichungen vom Bevölkerungsdurchschnitt.
    • Empiriebasierte Manuale bilden nur teilweise therapeutische Realität ab. Reine Störungsbilder sind die Ausnahme, Komorbiditäten Regelfall.
    • Zugang zu Psychotherapie ist AUCH IN DEUTSCHLAND ein Privileg! Sie ist im Durchschnitt weiß, besserverdienend, able, klassistisch ~ von den Therapeut*innen gar nicht zu reden. Es gibt eine große Bandbreite an Unsicherheit erzeugenden Faktoren - befindlich in der Störung selbst, in der Variabilität therapeutischer Kompetenz, im Vorwissen über Störung und Therapie, in der Haltung üblicher Zuweiser*innen, in Wartezeiten und Sitzungsbeschränkungen, der Variabilität verfügbarer Ansätze ....
  • Ratschläge sind auch Schläge. Wenn Rat noch dazu lediglich auf Halbwissen und der eigenen ggf. privilegierten Erfahrung beruht, wäre demütigere Haltung vielleicht angebrachter.

"Jede*n triggert was anderes - dann müsste man alles kennzeichnen."

01:34:30
  • So?! Nur mal angenommen, das wäre wahr: Kosten~Nutzen~Analyse.
  • Grundsätzlich ist diese Aussage in dieser Totalität nicht gültig.
    • Im Falle von Traumafolgestörungen kann langfristig zwar nahezu jeder neutrale Reiz zu einem Trigger generalisiert werden, das bedeutet aber nicht, dass es nicht Gruppen von Reizen gäbe, bei denen wir da ziemlich hohe Gewissheit haben.
      • Die meisten können intuitiv nachvollziehen, dass Darstellungen von Gewalt, sexualisierter Gewalt, Sexualität, Blut, Verletzungen, vielleicht sogar erlebtem Mobbing für Betroffene extrem unangenehm sein können. Hier ist die Bereitschaft selbst bei Gegner*innen von CWs gelegentlich hoch. Hier scheint die Empathie ~ ggf. aus eigener Betroffenheit oder nahestehenden Betroffenen ~ vglw. leicht zu fallen.
      • Diskriminierende Sprache und Inhalte - ob durch Verfasser*innen oder in Beiträgen Zitierte ~ können für Diskriminierte selbstverständlich auch zu Auslösern erheblichen Leids werden. Anscheinend gibt es dahingehend sehr flexible Bewertungen, welche Diskriminierten in diesem Fall wieviel Respekt und Rücksichtnahme verdienen. Das scheint mir sehr abhängig von den eigenen internalisierten Ansichten der Bewertenden (z.B. Rassismus vs. Bodyshaming, Rassismus vs. Antisemitismus, Klassismus vs. Sexismus ...) .
      • Darstellung von Essen kann sowohl Menschen mit klassischen Essstörungen aber auch Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen erheblich belasten. Binge~Eating~ oder Bulimische Attacken, Nichtvisuelle Flashbacks, Ekel, Übelkeit und migräneähnliche Syndrome können dadurch ausgelöst werden und weitere krisenhafte Zuspitzungen nach sich ziehen. Auch chronische körperliche Erkrankungen können Nahrungsaufnahme zu einem qualvollen Thema machen. Hier ist die Warn~Bereitschaft meist sehr gering, weil Essen für Normies etwas Angenehmes, Alltägliches ist und sie die Beschwerden der Betroffenen als Empfindlichkeit abtun und es mit eigenen, leicht zu umgehenden Nahrungsmittelaversionen gleichstellen. Fälschlicherweise.
      • Inhalte mit Bezug zu Arbeit und anderer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Viele Betroffene können aufgrund ihrer Einschränkungen und Eigenschaften nicht so am gesellschaftlichen Alltag teilhaben wie Normies. Naive Menschen nehmen an, dass es doch geil ist, wenn 1 nicht mehr arbeiten gehen muss und endlich ganz viel Freizeit hat. Das führt aber an der Realität der Betroffenen meilenweit vorbei. Wer einen kleinen Einblick zu diesem Themenbereich möchte, dem seien die Folgen 7 bis 9 zu chronischen Erkrankungen ans Herz gelegt. Entsprechend können jegliche Beschreibungen mit Bezug zu Arbeit, Freizeitgestaltung oder sozialen Kontakten in Betroffenen heftige Gefühle des Mangels, der Einsamkeit, der Ausgrenzung oder Wertlosigkeit auslösen.
      • Beschreibungen von emotional sehr belastenden oder kindheitsbezogenen Situationen bergen ebenfalls ein sehr hohes Triggerpotential. Stichworte wie Familie, Kindheit, Streit, Drohung, psychische Gewalt oder Missbrauch können Menschen in instabilen Phasen helfen, solchem Content aus dem Weg zu gehen.
    • Liste sicher nicht vollständig, aber schon mal ein recht adäquater Überblick.
  • Es muss vielleicht nicht nur um klassische Trigger gehen. Auch für Normies können Themen überfordernd und unerträglich werden. Um die eigene Funktions~ und Genussfähigkeit wiederherzustellen, brauchen wir manchmal schlicht Pausen.
    • Das KANN natürlich durch eine vollständige Internetpause oder Handypause erzielt werden. Damit gebe ich aber ggf. nicht nur Belastungen sondern auch Zugang zu wichtigen Ressourcen ab. Dabei würde ein temporäres Ausblenden überfordernder Inhalte bereits ausreichen, das den Rest erhält.

KostenNutzenAnalyse

01:46:47
  • Bei jeder Intervention bedarf es einer KostenNutzenAnalyse. Oft machen wir die ganz automatisch auf Basis unserer Datenlage.
  • Wie dargestellt ist die individuell meist sehr unterschiedlich ~ bis ich über die Infos der anderen aufgeklärt werde.
  • Bei vielen Betroffenen führt eine KostenNutzenAnalyse zu vollständigen Blocks, Vermeidung bestimmter Blasen oder Netzwerke oder gar zu einem generelleren sozialen Rückzug. So hoch empfinden sie ihre individuellen Kosten.
  • CW erlauben den Betroffenen eine selbstbestimmte Regulation akuter Belastung und tragen somit zum höchsten Maß an gesellschaftlicher Teilhabe, die unter den jeweiligen Lebensumständen möglich ist. Gleichgültiges Posten ohne CW führt durch Erschöpfung und ChillingEffects zur weiteren Ausgrenzung Betroffener.
  • Bei Gegener*innen führt die Analyse offensichtlich zur Annahme, dass ihre individuellen Kosten durch CWs ~ ob spezifisch oder mandatorisch ~ höher zu bewerten sind als die der Betroffenen.
  • Objektive Kosten von CWs z.B. im Netzwerk Mastodon:
    • Bei einem neuen Post/Toot: Eingabe ca. 5 bis 20 weiterer Zeichen. Bei jeder Antwort auf diesen entfällt die Eingabe durch automatische Übernahme.
    • Von 500 verfügbaren Zeichen werden diese Zeichen abgezogen, was eine Beschränkung auf selten weniger als 480 Zeichen bedeutet.
    • Beim Lesen einer TL mit CWs erscheinen die Toots eingeklappt und müssen durch 1 LinksKlick geöffnet werden.
      • Das kann allerdings im Webclient und in einigen AndroidClients zentral ausgeschaltet werden. Nur im worst case kommt es also zu einer für das Internet nicht eben unüblichen Mehrbelastung des meist rechten Zeigefingers.
    • Bei CWs vor Blogposts, Artikeln oder anderen Schrifterzeugnissen aber auch als kurze Ansage zu Beginn von Podcasts oder RadioSendungen dürfte der Aufwand im Vergleich zur Gesamtanstrengung tendenziell noch marginaler ausfallen.

Fazit

01:52:44
  • Der Nicht~Einsatz bzw. die aktive Verweigerung von CWs ist entweder auf wenig liebenswerte Charakterzüge oder eine unvollständige KostenNutzenAnalyse zurückzuführen. Beschränkt man diese nur auf die eigenen Interessen fällt sie naturgemäß selbstbezogen aus. Fehlt einfach die Perspektive Betroffener handelt es sich ggf. nur um einen Informationsmangel, der durch Zuhören, Offenheit und den bewussten Abbau von Privilegien behoben werden kann.
  • Wie bei so vielen Analysen:
    • Es gibt einen Weg, der unmittelbar angenehm bzw. bequemer ist, aber gleichzeitig bittre langfristige Konsequenzen nach sich zieht.
    • Und einen, der unmittelbar aufwändiger ist, aber sich langfristig positiv auf die Gesamtsituation auswirkt.
  • Bei den CW ist es wie mit dem Gendern:
    • Zu Beginn fällt die Umstellung etwas schwer, 1 muss eine Zeit lang Misserfolge/Scheitern aushalten. Aber das ist temporär und mit der Zeit wird es immer leichter und normaler.
  • Meine eigene Transformation ist dahingehend übrigens auch noch lange nicht abgeschlossen. Es gibt immer wieder Phasen oder Situationen, in denen ich diesen Ansprüchen nicht entspreche. Die entscheidende Frage ist, wie ich damit umgehe:
    • Relativiere ich? Invalidiere ich Betroffene, um mich damit besser zu fühlen?
    • Oder nehme ich Kritik an, überprüfe ich mich regelmäßig selbst und korrigiere ich mich, wenn ich mein Scheitern bemerke?
  • Es geht nicht darum im Fahrtwind des allgemeinen Perfektionismus in den ActivistBurnout zu schlittern. Aber es kann auch nicht darum gehen, sich hinter Gleichgültigkeit oder Selbstgefälligkeit zu verstecken. Dazwischen gibt es noch etwas.

Abschied

02:03:06
  • Diesmal gibt es wenig Links auf Quellen. Denn wie oben beschrieben gibt es wenig Quellen, auf die sich zu beziehen lohnte. Meine Argumentation leitet sich aus psychotherapeutischem Wissen über verhaltenstheoretische und störungsspezifische Entstehungs~ und Erhaltungsmodelle sowie Behandlungskonzepte ab.
  • Dieses Plädoyer fällt doch sehr viel ausführlicher und zusammenhängender aus als eine Reihe von Toots, die im Schlagabtausch von mir in die Auseinandersetzung geworfen werden. Schlagabtausch~Diskurse verlaufen oft eskalativ, führen zur Fragmentierung von Gedankengängen und fördern so eher das Missverstehen als die Verständigung.
  • Ich hoffe, dass dieser umfangreiche Beitrag denen hilft mich zu verstehen, die mich angesichts meiner Toots zum Thema CW als ideologisch, starrsinnig und irrational wahrgenommen haben.
  • Und denen, die immer wieder in die aufwallenden Debatten ziehen, die Position zugunsten CWs (oder auch anderer sprachlicher Anti-Diskriminierungsmaßnahmen) noch klarer und mit evtl. neuen Argumenten zu vertreten.
  • Es geht beim Streit um CWs nicht um Rechthaben, sondern um konkrete Lebensbedingungen anderer Menschen. Also um sichere Räume, in denen sich alle Menschen so optimal wie möglich beteiligen können, leben können.
  • Das inkludiert auch die Aufgabe eigener Privilegien zugunsten eines Zusammenlebens, das auf Kooperation basiert, nicht auf Konkurrenz.
  • Ich bin selbst in dieser Episode den für mich bequemen Weg gegangen, als Nicht~Betroffener alleine und ohne die Perspektive der Betroffenen über Inhaltswarnungen zu sprechen. Ich könnte dafür plausibel klingende Gründe anführen. Aber das ändert an dieser Schwäche nichts.
  • Ich möchte denen, die ihre Perspektive in diesem Kontext besser repräsentiert sehen möchten, das Angebot machen, diesen Mangel mit mir zu korrigieren. Wer sich mit mir über dieses oder ein anderes meiner Themen aus seiner spezifischen Perspektive unterhalten und sie mit meinen Zuhörer*innen teilen möchte, melde sich bitte sehr gern bei mir.
  • Danke für die Aufmerksamkeit, jedes Teilen, jede Ermutigung, jede respektvolle Korrektur oder Ergänzung.
  • Die Plapperbude bleibt zwar ein Projekt neben einer Reihe wichtiger Projekte und Interessen in meinem Leben. Aber darunter ist sie ein wichtiges und geliebtes. Und das nicht zuletzt auch wegen all den tollen Menschen, die sich mir als Zuhörer*innen zu erkennen geben und so das Projekt mit mir teilen.
  • Tonquellen
  • Werde Mitglied in der Plapperbu:de-Community auf Matrix und diskutiere mit anderen Zuhörer*innen über diese Folge!

Weiter im Text …

Gebrainstormte Themen, die ich gerne verpodcasten würde:

[WiP] = Thema in Bearbeitung

  • Traumafolgestörungen
    • „Was hat das mit mir zu tun?“
  • Erziehung zwischen Bedürfnisorientierung und Auftrag
    • Ein Gespräch mit Julia über das Spannungsfeld zwischen Mutterschaft und Feminismus
    • Evtl. zweiter Teil
  • Traumafolgestörungen II
    • Moderne Behandlungsmethoden mit Kathrin
  • Politische Kurzsichtigkeit: Über Wahlkampfgeschenke und die Gießkannen-Methode
    • Wem nutzt das? Kein Zufall, keine Dummheit, sondern opportunistische Selbstdienlichkeit
  • Psychotherapie? Vielleicht in nem halben Jahr … [WiP]
    • Über den Unsinn einer unzureichenden Psychotherapeutischen Versorgung
  • „Du musst immer machen, was der Erwachsene sagt.“
    • Vom Unglück deutscher Erziehung
  • „Was ist das für 1 Klima?!“ 
    • Diskreditierung politischer Partizipation junger Menschen am Beispiel von und im Vergleich mit ihren Vorgänger*innen
  • Das Web2.0  und die Persönlichkeitsentwicklung
    • Ist dieses Internetz wirklich so gefährlich? …
  • Alles muss, nichts kann?
    • Sein und Werden im Spannungsfeld zwischen Selbstausbeutung und Emanzipation
  • Nach Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie bitte …
    • Die (noch) bestehenden Schwächen in der psychosozialen Versorgung und ihre Folgen
  • Die Psychologie der „Alternativmedizin“
    • Warum Bildung allein nicht vor Alufolie schützt
  • Irgendwie mit Juna
    • Ein Treffen mit der wundervollen Juna Grossmann
  • Feminismus und die Emanzipation des Mannes
    • Warum Männer Feminist*innen unterstützen sollten
  • Recherche zu „Fallmanagement“ bei Krankenkassen
    • Werden die Drückerkolonnen der KK wissenschaftlich begleitet? Schaden oder Nützen die trainierten Laien am Telefon eigentlich?
  • Leben ohne Krankenkasse
    • Wie kommen Menschen außerhalb des Solidarsystems an notwendige Behandlungen?
  • Rassismus und das Weiße Privileg
    • HowTo änder endlich was
  • Von Hufeisen und unterkomplexen Erklärungsmodellen
    • Ein Blick auf die Unzulänglichkeit der „Links/Rechts“-Dimension bei der Beschreibung polititscher Einstellungen als Legitimations-Werkzeug einer opportunistischen „Mitte“
  • Chronische Erkrankungen und die Interaktion von Soma und Psyche [WiP]
    • Das Leben mit chronischen Erkrankungen, Nebenwirkungen von Pharmakotherapie, Sekundärstress durch Akutsymptome und systemischen Veränderungen (z.B. Hormone) und Schwächen der Gesundheitssysteme.
  • Diagnosen [WiP]
    • Vom Wohl und Wehe der Kategorisierung von Leiden
  • Es geht nicht primär um Sex
    • Polyamorie als bedürfnisorientierte Alternative zum Dogma

Ich freue mich über Hinweise und Anregungen zu diesen Themen und natürlich Ideen und Angebote für Interviews oder Gesprächspartner*innen!